100% sind nicht zuviel
Liebe Leserinnen und Leser,
die Augen sehen nur das Oberflächliche. Um tiefer als das Augenscheinliche sehen zu können, bedarf es einer besonderen Form der Bildung. Dabei geht es nicht darum, den leicht kitschigen Satz, dass man nur mit dem Herzen gut sehen, zu reüssieren. Auch das Herz kann getäuscht werden und lässt sich nur allzu oft und allzu gerne täuschen. Es geht eher um den zweiten Blick, das Augenscheinliche zu hinterfragen, den Kontext zu beachten und so tiefer als das bloß Offensichtliche der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die gegenwärtige Zeit scheint für die Lustlosigkeit, dem allzu Offensichtlichen mit einer gesunden Form der Skepsis zu begegnen, wieder einmal anfällig zu sein.
Das ist nicht neu. Auch andere Zeiten waren immer wieder davon geprägt, dass Heuchler in der Lage waren, die Menschen zu blenden – und viele ließen und lassen sich nur allzu gerne blenden. Der Titel, das Geld, das Amt – sowohl die Kirche als auch die Gesellschaft waren immer anfällig für den schönen Schein. Der Herr Pastor tut so etwas doch nicht, die Frau Ministerin hat doch einen Eid geleistet, der reiche Mäzen unterstützt doch dieses oder jenes – nur das, was hinter den Masken modert, darf nicht an die Oberfläche kommen.
Wie wenig neu die Lust am schönen Schein ist, kommt auch im Evangelium vom 32. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B zu Sprache. Jesus spricht dort vor einer großen Menschenmenge. Es gab noch keine Möglichkeiten der elektronischen Verstärkung menschlicher Sprache. Er wird also laut geredet haben müssen, sehr laut. Wer jemals mit starker Stimme ohne elektronische Verstärkung vor einer großen Menge Menschen gesprochen hat, weiß, dass das eine sehr physische Erfahrung ist. Der ganze Körper spricht mit. Jesus spricht also laut – und mit Händen und Füßen. Es ist eine emotionale Rede – und emotional ist die Redeweise:
„Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Marktplätzen grüßt, und sie wollen in der Synagoge die Ehrensitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie fressen die Häuser der Witwen auf und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Umso härter wird das Urteil sein, das sie erwartet.“ (Mk 12,38-40)
Die Sprache ist harsch. Das Auffressen der Häuser der Witwen ist drastisch. Man stelle sich vor, heute würde jemand so seine Ansichten über das Verhalten von jenen, die Verantwortung für das körperliche und seelische Wohl von Menschen haben und die darin offenkundig eigene Pläne verfolgen, aber eben nicht das Wohl der ihnen Anvertrauten, reden.
Man stelle sich vor, ein Schriftsteller würde anlässlich des 35-jährigen Jubiläums des Mauerfalls den amtierenden Bundespräsidenten an seine merkwürdige Haltung gegenüber Russland in seiner Zeit als Außenminister erinnern. Man kann sich gut vorstellen, dass der so gerügt die Contenance verlieren könnte. Und er hat sie verloren.
Man stelle sich vor ein frisch gewählter Präsident eines mächtigen Landes droht, das Militär im eigenen Land gegen seine eigenen Landsleute einzusetzen, wenn diese ihn kritisiert haben oder kritisieren. Und man stelle sich vor, dass eben jenes Militär sich daran erinnert, dass es nicht zu ungesetzlichen Zwecken eingesetzt werden darf. Man kann sich gut vorstellen, wie der neu gewählte Präsident wütet.
Man stelle sich vor, in einer Regierungskoalition geht das Vertrauen verloren, weil jeder der Partner seine eigenen Ziele verfolgt, auch, weil bald wieder Wahlen sind. Einer der Partner provoziert mit Blick auf seine reiche Klientel die anderen. Man kann sich gut vorstellen, wie der Vorsitzende dieser Regierung die Fassung verliert und für klare Verhältnisse sorgt.
Man stelle sich vor, eine Religion gibt vor, sie stehe für Frieden, weil sie den angeblich im Namen trägt. Sie gibt sich tolerant, solange sie in der Minderheit ist. Wo sie aber das Sagen hat, ist Frieden offenkundig nur möglich, wenn man sich ihr unterwirft. Man kann sich gut vorstellen, dass die Menschen gegen eine solche Religion aufstehen – und sie tun es, in dem Frauen den Schleier ablegen und dafür Gefahr laufen, bestraft zu werden oder vielleicht sogar das Leben zu verlieren. Viele aber wollen nicht unter die Oberfläche schauen und schauen lieber weg oder betäuben sich mit dem schönen Schein.
Dieser Jesus beweist wahrlich Rückgrat – und er weiß, mit wem er sich anlegt. Dieser Jesus ist nicht lieb. Er ist herausfordernd. Wer mag ihm darin nachfolgen? Die, die vorgeben, ihm ähnlich zu sein, ähneln freilich oft jenen, von denen ebenfalls im Evangelium vom 32. Sonntag im Jahreskreis, des Lesejahres B die Rede ist:
„Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.“ (Mk 12,41-44)
Auch heute halten viele, die vorgeben, dem Pfad Jesu zu folgen, große Reden, in denen Sie die Worte des Wanderpredigers aus Galiläa im Munde führen. In prächtige Gewänder gekleidet predigen sie dann eine Armut, die ihrem äußeren Erscheinungsbild zuwiderläuft. Sie sprechen von einer Demut, die ihrem eigenen Habitus Hohn spricht. Man stelle sich vor, sie würde die Gewänder ablegen. Haben sie dann auch noch Rückgrat oder sind die prächtigen Gewänder nur Rüstungen, Exoskeletten gleich, die die Haltungslosigkeit gut verbergen.
Und dann ist da die Witwe im Evangelium. Sie ist unscheinbar. Sie ist arm. Und sie gibt alles, was sie hat. Nicht den Zehnten, nicht die Hälfte. Sie gibt alles, 100%. Absolut gesehen wenig. Aufs Ganze gesehen aber alles! Sie, die Witwe hat Rückgrat. Gebeugt geht sie aufrecht.
Die Zeiten sind wahrlich wirr. Wieder einmal! Und wieder einmal braucht es Leute mit Rückgrat. Gerade jetzt. Es geht darum, 100% zu geben – so wenig das auch sein mag.
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche.
Glück auf und Frieden über Israel,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal
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