Wenn nicht jetzt, wann dann?
Liebe Leserinnen und Leser,
die Welt scheint aus den Fugen geraten. Die alten Ordnungen, die über viele Jahrzehnte ein wenigstens relatives Maß an Sicherheit garantiert haben, zerfallen vor den Augen einer noch sprachlosen Öffentlichkeit zu Staub. Es gilt kein gegebenes Wort mehr, keine Ehre, keine Menschlichkeit. Die Dealer dieser Welt haben keinen Respekt vor jenen, die sie bestenfalls als Verhandlungsmasse sehen. Breitbeinig, großspurig und großmäulig treten die Bullys in den Präsidentenämtern auf – posieren mit nacktem Oberkörper auf Pferden, inszenieren sich als selbsternannte Könige oder zeigen sich mit Kettensägen. Respekt, Achtung, Nächstenliebe erscheinen ihnen als Schwäche. Wo kein Gewinn zu machen ist, kein „Deal“, haben die Schwachen und Bedrohten das Nachsehen - was haben sie schon zu bieten? Es ist unübersehbar, dass eine Zeitwende gekommen ist, in der sich zumindest in der nahen Zukunft nichts Gutes erhoffen lässt. Das Unvermögen der vielen, selbst den eigenen Anteil der Last der Verantwortung für das eigene Leben, die Familie und die Gesellschaft zu tragen, korrespondiert mit der Sehnsucht nach dem starken Führer, der einem sagt, was zu tun ist, dem man blind folgen will, um so keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Die Welt ist in Unordnung geraten. Die Besonnenen müssen sich neu sortieren, andere jubeln, dass endlich etwas passieren würde. Das echte Leben, dieses Leben aber ist kein schlechter Actionfilm, der irgendwann zu Ende ist und man wieder in sein geordnetes Leben zurückkehrt. Das Chaos hat die Herrschaft übernommen.
Genau in diese Situation hinein erklingen am achten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C im Evangelium die Worte Jesu:
„Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?“ (Lk 6,39)
Sind aber die gegenwärtigen Herren des Chaos wirklich blind? Oder führen Sie die Welt sehenden Auges in eine Zukunft, in der Werte wie Respekt, Nächstenliebe und des Schutzes der Schwachen in den Hintergrund treten und dem Recht des Stärkeren Platz machen müssen?
In der ersten Lesung vom achten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C heißt es:
„Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück; so entdeckt man den Unrat eines Menschen in seinem Denken.“ (Sir 27,4)
Die Lesung entstammt dem Buch Jesus Sirach, das sich nicht in der hebräischen Bibel, sondern in der sogenannten „Septuaginta“ befindet, der aus dem 2. Jahrhundert v.d.Z. erstellten griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, die zusätzlich zu deren Umfang noch einige weitere Schriften enthält, die nur auf altgriechisch überliefert sind. Das Buch Jesus Sirach ist eine weisheitliche Schrift. Als solche spricht sie – unabhängig davon, dass sie Teil der Schriften ist, die römische Katholiken als Wort Gottes verehren – vor allem auch die allgemeine Vernunft an – unabhängig davon, ob jemand glaubt oder nicht. Das gilt auch für das Bild vom Sieb. Alles wird dort durchgesiebt. Das Feine fällt hindurch, der Abfall bleibt hängen.
Ähnlich verhält es sich mit der Fortsetzung der Lesung, die ein anderes Bild einführt:
„Der Brennofen prüft Töpferware und die Erprobung des Menschen geschieht in der Auseinandersetzung mit ihm.“ (Sir 27,5)
Der griechische Text sieht dort, wo in der Einheitsübersetzung von 2016 die Variante „Erprobung“ gewählt wird, das Wort πειρασμός (gesprochen: peirasmós) vor. Dieses Wort findet sich auch im Vaterunser und wird dort allgemein mit „Versuchung“ übersetzt. Würde man diese Übersetzungsvariante hier einfüge, lautete der Vers:
„Der Brennofen prüft Töpferware und die Versuchung des Menschen geschieht in der Auseinandersetzung mit ihm.“
Das Bild schildert eine Gerichtssituation. Jeder Töpfer kennt sie. Man hat ein schönes Gefäß aus Ton geschaffen. Aber erst im Brennofen zeigt sich, ob es etwas taugt. Es kann sein, dass es im Feuer zerspringt und nicht standhält. Dann war alle Arbeit umsonst und man muss von vorne beginnen.
So ist auch das Leben der Menschen. Er schafft und träumt und versucht und tastet und irrt sich bisweilen voran. Das Leben selbst wird schon zum Gericht, weil sich oft schon innerhalb der eigenen Lebenszeit die Folgen zeigen, die die eigenen Entscheidungen zeitigen. Oft kann man sie, wenn sie sich als falsch erwiesen haben, verändern, wieder gut machen, anders handeln. Das setzt einen Prozess des Umdenkens – oder, wie es in der Bibel oft heißt – der Umkehr voraus. Und da, wo die Spanne eines Lebens nicht ausreicht, erhoffen Glaubende, dass Gott die letzte Gerechtigkeit aufrichten wird – über den Tod hinaus. Deshalb schreibt Paulus in der zweiten Lesung vom achten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C:
„Daher, meine geliebten Brüder und Schwestern, seid standhaft und unerschütterlich, seid stets voll Eifer im Werk des Herrn und denkt daran, dass im Herrn eure Mühe nicht vergeblich ist!“ (1 Kor 15,58)
Das ist ein starkes Zeichen der Hoffnung, aber eben auch ein Auftrag: Standhaftigkeit und Unerschütterlichkeit angesichts des Chaos zu bewahren – und das nicht nur als sedierende Beruhigung in einer unruhigen Gegenwart. Die unerschütterliche Standhaftigkeit korrespondiert nämlich mit dem Eifer im Werk des Herrn.
Auf diesem Hintergrund wird deutlich, was die Versuchung bzw. die Erprobung des Menschen ist, von der Jesus Sirach spricht. Gerade im Chaos zeigt sich, wer aufrecht und in Liebe zur Wahrheit den rechten Pfad sucht. Die Lüge herrscht leicht. Die Wahrheit braucht Kämpfer des Lichtes.
Wir erleben – wieder einmal in der Geschichte der Menschheit – eine Zeit des Gerichtes. Jetzt kommt es auf jede und jeden Einzelnen an. Es ist nicht die Zeit, sich in die Rolle des Zuschauenden zurückzuziehen. Jetzt ist von jedem aufrechten Geist Standhaftigkeit und Unerschütterlichkeit gefordert. Jesus selbst lässt keinen Zweifel aufkommen:
„Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund.“ (Lk 6,45)
Ihr, die ihr die Wahrheit liebt, schweigt nicht. Werdet laut. Widersteht und widersprecht. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Glück auf und Frieden über Israel,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal
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