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Tod oder lebendig – oder verschwunden
Ein Gespräch mit der katholischen Menschenrechtlerin Blanca Martínez aus Mexiko


Die Menschenrechtlerin Blanca Martínez fordert von der mexikanischen Regierung, die Angehörigen von Verschwundenen mehr einzubeziehen.

Interview Kathrin Zeiske und Øle Schmidt
Bild Øle Schmidt

In Mexiko „verschwinden“ jeden Tag 13 Menschen spurlos – seit Beginn des sogenannten Drogenkrieges im Jahr 2006 sind das mindestens 26.000. Das mexikanische Parlament hat nun auf Druck der UNO ein Gesetz gegen „Gewaltsames Verschwindenlassen“ verabschiedet. Menschenrechtler wie Blanca Martínez fordern, bei der konkreten Ausarbeitung des Gesetzes die Angehörigen von Verschwundenen einzubeziehen. Ein Gespräch mit der 55Jährigen Leiterin des Menschenrechtszentrums von Saltillo, das von Bischof Raúl Vera im nördlichen Bundesstaat Coahuila gegründet worden war.

Redaktion: Frau Martínez, um eines gleich vorweg zu sagen: In Deutschland wird zwar wahrgenommen, dass seit einigen Jahren in Mexiko tausende Menschen vermisst werden, doch wirklich verstehen kann das kaum jemand. Wer wird bei Ihnen im Norden Mexikos entführt?

Martínez: Nun, es kann jeden treffen, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Entführt werden Menschen, die ihren Aufenthaltsort wechseln. Wenn ganze Gruppen „verschwinden“, verbindet die Menschen oft nur, dass sie gemeinsam im Morgengrauen auf der Landstraße unterwegs waren. Auf dem Weg zur Arbeit oder zum Studium, auf dem Weg zum Markt in der nächsten Stadt.

Redaktion: Wer entführt all diese Menschen? Dafür braucht es doch eine Infrastruktur und Erfahrung, die Kleinkriminelle nicht haben dürften.

Martínez: Vor allem Mitglieder von Drogenkartellen sind für die Entführungen verantwortlich, meist werden sie dabei von Beamten der Bundespolizei unterstützt. Vereinzelt kommen die Täter aus lokalen Polizeieinheiten oder dem Militär.

Redaktion: Warum entführen Angehörige staatlicher Sicherheitsorgane Menschen, anstatt sie davor zu beschützen?

Martínez: Es geht um persönliche Bereicherung, um Korruption. In Mexiko sind Gesellschaft und Staat vom Drogenhandel zersetzt. In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren es meist Paramilitärs, die Oppositionelle und Aktivisten aus sozialen Bewegungen verschleppten und staatlichen Institutionen übergaben, die sie dann verschwinden oder umbringen ließen. Heute, im Kontext der Gewalt des sogenannten Drogenkrieges, erleben wir ein umgekehrtes Vorgehen. Die Polizei nimmt Menschen fest und liefert sie dem Organisierten Verbrechen aus, wie im Fall der 43 Studenten aus Ayotzinapa. Der Staat trägt für diesen Terror Verantwortung. Zum einen, weil Beamte direkt beteiligt sind, zum anderen, weil die Aufklärung dieser Verbrechen verweigert wird, sie vertuscht werden.

Redaktion: Geht es wirklich nur um Geld, wenn jedes Jahr tausende Menschen in Mexiko entführt werden und nie wieder auftauchen?

Martínez: Ja. Wir beobachten, dass Verschleppungen, aber auch Vertreibungen, Erpressungen und Hinrichtungen von Gruppen der Organisierten Kriminalität bewusst eingesetzt werden, um Kontrolle über neue Gebiete zu erlangen. Sie etablieren ihre Macht, indem sie die Zivilbevölkerung mit Terror lähmen, um sie leichter zu kontrollieren, auch emotional. Und die Kontrolle über diese Territorien wollen diese Gruppen, um möglichst schnell viel Geld machen zu können.

Redaktion: Das hört sich wie ein Krieg gegen Teile der Bevölkerung an. Warum schaffen es die Angehörigen der Entführten nicht, die mexikanische Gesellschaft wachzurütteln?

Martínez: Mit dem Ausbruch der massiven Gewalt in dem, sogenannten Drogenkrieg, den die konservative Regierung Calderon entfesselt hat, begann die Stigmatisierung der Opfer in den Medien. Tenor ist auch heute noch: wer verschwindet oder umgebracht wird, der muss in den Drogenhandel verstrickt sein. Die Menschen werden auf zweierlei Weise zum Schweigen gebracht. Wenn jemand aus ihrer Familie entführt wird, stellen die Angehörigen aus Angst vor Racheakten meist keine Anzeige. Gleichzeitig werden sie gesellschaftlich ausgegrenzt. Es ist eine Tragödie, was derzeit in Mexiko geschieht.

Redaktion: Viele der Entführungsopfer tauchen nie wieder auf. Wie groß ist die Gefahr, dass Menschen, die „verschwinden“ auch umgebracht werden?

Martínez: Wenn kein Lösegeld von den Angehörigen gefordert wird, ist ziemlich sicher, dass die „Verschwundenen“ umgebracht werden. Wenn Angehörige bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben wollen, kriegen sie zu hören, dass dies erst nach 72 Stunden möglich ist. Das aber ist genau der Zeitraum, in dem die Chance besteht, vermisste Personen zu finden, weil ihre Spuren noch nicht verwischt sind. Da der mexikanische Staat keine Verantwortung übernimmt, beginnen die Familien selbst, ihre Angehörigen zu suchen. Sie hängen Plakate mit Fotos der Verschwundenen und ihrer Telefonnummer auf.

Redaktion: Was haben die Angehörigen von „Verschwundenen“ bislang erreicht?

Martínez: Sehr viel. Sie haben sich selbst ermächtigt, indem sie ihren Schmerz und ihre Verzweiflung in Handlungen gewandelt haben. Nach Verhandlungen mit der Regierung gibt es mittlerweile eine Staatsanwaltschaft für „nicht lokalisierte Personen“. Und im Mai 2014 hat die Landesregierung von Coahuila ein Gesetz über die „Abwesenheit infolge von Verschwindenlassen“ verabschiedet. Auf Druck der Vereinten Nationen ist nun ein solches Gesetz auch von der Bundesregierung verabschiedet worden. Denn in Mexiko gibt es einen solchen juristischen Tatbestand nicht, deswegen kann er auch nicht angezeigt werden, obwohl Abertausende Menschen betroffen sind.

Redaktion: Das müssten Sie uns bitte genauer erklären.

Øle Schmidt ist im Auftrag der Welthungerhilfe
als Journalist nach Haiti gereist

Martínez: In Mexiko gibt es bislang ohne Leiche kein Verbrechen, was angezeigt und gesühnt werden kann. Angehörige bleiben aber nicht nur mit ihrem Schmerz zurück, wenn etwa das Oberhaupt einer Familie „verschwindet“, sondern auch mit vielen alltäglichen Problemen. Wer drei Tage unentschuldigt fehlt, verliert seine Arbeit und damit verbundene soziale Sicherungen, die unter Umständen für die ganze Familie gelten. Kinder werden geboren und können nicht registriert werden, weil der Vater „verschwunden“ ist. Familien bleiben mit Schulden bei Geschäften oder Hypotheken auf ihr Haus zurück, weil das Haupteinkommen weggebrochen ist. Einen Status „verschwunden“ gab es bislang aber nicht, es existiert nur „tot oder lebendig“. Doch eine Familie dazu zu zwingen, ihren Angehörigen für tot erklären zu lassen, um dem Schuldenberg zu entkommen, kann für diese sehr grausam sein.

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