Mein Informant Pablo und der Untergrundbibliothekar Raul wollen nicht gezeigt werden, beide leben im alten Teil der Hauptstadt Havanna.
Text und Bild Øle Schmidt
Wenn Polizisten kommen, sprichst du nicht mehr mit mir, und wechselst die Straßenseite.“ Mein Informant Pablo knipst das rechte Auge zu, er möchte entspannt wirken. Wissen wir doch, dass dieser Nachmittag massive Konsequenzen haben könnte. Pablo riskiert Gefängnis. Er will mich zu einem Untergrundbibliothekar führen, einem namenlosen Bekannten, der ihn immer wieder illegal mit Lektüre versorgt, die in Kuba auf dem Index steht. Ein gefährlicher Ausflug. Zumal es Kubanern verboten ist, direkten Kontakt zu Fremden aufzunehmen. Ein verzweifelter Kampf der Regierung gegen die Nebenwirkungen der ungeliebten touristischen Öffnung seit der ökonomischen Depression Anfang der neunziger Jahre, den Tausch von Geld gegen Sex, den Austausch von Gedanken und Ideen, und die damit unweigerlich verbundene Veränderung des Landes. Ich bin als Tourist eingereist, weil ich journalistische Recherche ohne Betreuung von Sicherheitsbeamten bevorzuge.
Die Kubaner schimpfen in diesen Tagen über den strengen Winter, das Thermometer will einfach nicht über fünfundzwanzig Grad klettern. Pablo winkt ein Taxi heran. Er legt den Zeigefinger auf seine Lippen. Auch jetzt ist Reden Silber, und Schweigen Gold. Müssen Touristen doch eigentlich mit ausgewiesenen Taxis fahren, teuer und abgeschirmt. Also lassen wir stumm die stolzen Kolonialbauten an uns vorbeiziehen, passieren bröckelnde Fassaden mit den Konterfeis von Fidel Castro und Che Guevara.
„Er wohnt dort vorne“, Pablo zeigt auf ein Eckhaus, nur einen Steinwurf entfernt. Die auffällig unauffälligen Männer der Geheimpolizei in dem Wagen davor sollen nicht sehen, dass wir seinen Gewährsmann besuchen. Pablo führt mich durch ein Gewirr von Hinterhöfen. Ein Pfiff. Hundegebell. Dann steht er vor uns. Nicht besonders groß, schlank, aus dem braunen Gesicht blitzen wache Augen. Wie soll ich ihn nennen? „Nenn mich Raúl“. Als er meinen entgeisterten Blick sieht, lacht er. „So haben mich meine Freunde schon immer genannt, daran ändert auch Raúl Castros Inthronisierung als Staatschef nichts.“ Wir gehen in seine Wohnung. Von der Hauptstraße schallt der Lärm, schwer beladene Lastwagen lassen den Boden erzittern. „Ich gehöre zu einem Netzwerk unabhängiger Bibliothekare in Kuba“, Raúl spricht langsam, damit Pablo mit dem Übersetzen nachkommt. „Wir bringen Medien in Umlauf, die von der kubanischen Regierung verboten sind.“ Etwa vierzig dieser unabhängigen Bibliotheken gibt es, sie verteilen sich auf alle Provinzen der Insel, in jeder arbeiten zwei Personen.
Die Geburtsstunde dieser Bewegung ist in den späten neunziger Jahren. Fidel Castro sagt damals, dass manche Bücher in Kuba nicht erscheinen, sei dem Mangel an Papier geschuldet, nicht einer staatlichen Zensur. Als Antwort auf diese Polemik gründen Kubaner die erste unabhängige Bibliothek. „Mittlerweile haben wir sogar einen Bringservice für freie Informationen“, sagt Raúl stolz. Boten transportieren die gewünschten Medien in andere Städte und Provinzen.
Raúls Job als Untergrundbibliothekar ist gefährlich, sehr gefährlich. In ihrem jüngst veröffentlichten Bericht New Castro, Same Cuba konstatiert Human Rights Watch, dass auch unter der Ägide von Raúl Castro Menschenrechte massiv verletzt werden. Die NGO kritisiert eine politische Justiz mit willkürlichen Verhaftungen, Einzelhaft und Umerziehung. Tenor: „Diejenigen Kubaner, die es wagen, Kritik zu üben, leben in ständiger Angst, jederzeit im Gefängnis zu landen.“ Eine mutige Arbeit also, zudem viel Arbeit für Raúl und seine Mitstreiter. Denn die Giftliste der kubanischen Behörden ist lang, viele prominente Namen finden sich darauf: der Tscheche Milan Kundera, der Mexikaner Octavio Paz, Mario Vargas Llosa aus Peru, der Argentinier Jorge Luis Borges, Alexander Solschenizyn aus Russland. Aber auch die Bücher bekannter kubanischer Autoren wie Reinaldo Arenas und Guillermo Cabrera Infante dürfen auf der Karibikinsel weder gedruckt noch verkauft werden.
Ausgerechnet in einem Land, dessen Bildungssystem laut UNESCO nicht nur in Lateinamerika vorbildlich ist, werden Gedanken dämonisiert und Meinungen unter Strafe ge- stellt. Womöglich haben die bärtigen Revolutionäre bei ihrer Entscheidung, Bücher zu verbieten, sogar an einen Ausspruch Goethes gedacht. Befand der in Dichtung und Wahrheit doch: „Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe.“ Und Unruhe ist nun einmal das letzte, was Diktaturen gebrauchen können, seien sie im Namen des Proletariats ausgerufen oder im Fieberwahn eines noch freieren Marktes.
„Die Sache mit Kundera ist sehr interessant“, Raúl lehnt sich entspannt in seinem Stuhl zurück. Sein kariertes Hemd steckt nur widerwillig in der grauen Stoffhose, aus den zu kleinen Ledersandalen ragen die Zehen heraus. „Obwohl seine Bücher hier verboten sind, reichen Studenten sie an den Unis unter der Hand weiter. Ein ermutigendes Beispiel, wie das Prinzip unabhängiger Bibliotheken wirkt.“
Die Porzellanfiguren auf dem Glastisch neben der Couch sind akkurat aufgereiht, über-ragt werden sie von einem großen Strauß Plastikblumen. So wie es aussieht, brauchen auch Dissidenten Harmonie, und sei es nur an den Wänden. Die Kunstdrucke über Raúls Schreibtisch zeigen einen Bergsee, einen Sonnenuntergang, ein Picknick Liebender. Ein bizarrer Kontrast, diese Ikonen heiler Welt in einer Zentrale der Subversion. In der entgegen gesetzten Ecke steht das Bücherregal, in dem die heiße Ware lagert, wegen der wir hier sind. Seltsam unspektakulär wirkt es. Bücher der eingangs erwähnten Autoren stehen dort Rücken an Rücken mit Werken über die kubanische Geschichte und akademischen Publikationen aus Soziologie, Anthropologie und Literaturwissenschaft. Alle verboten.
„Das grundsätzliche Problem ist auch unter Raúl Castro geblieben“, sagte Raúl. „Dem kubanischen Volk wird verwehrt, selbst zu bestimmen, von wem es regiert werden möchte. Es gibt keine Pressefreiheit, keine freien Wahlen, eine willkürlich definierte Versammlungsfreiheit.“ Das staatssozialistische kubanische Modell ist paternalistisch: Die Regierung garantiert Bildung, eine Analphabetenrate, die den USA gut zu Gesicht stehen würde, eine kostenfreie Gesundheitsversorgung, einen Mindestlohn für alle. Im Gegenzug bestimmen die Herrschenden allerdings auch über die Versorgung mit Informationen und Meinungen – anderswo Zensur genannt – und die Kommunistische Partei tritt außer Konkurrenz an.
Der Diskurs über Menschenrechte in Kuba wird auf einem ideologischen Minenfeld ausgetragen, nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit. Wer seine Stimme erhebt, hat schnell falsche Freunde und echte Feinde. Werfen die Castristen das Menschenrecht auf Leben, Nahrung und Teilhabe in die Waagschale, kontern ihre Gegner mit eben der Verletzung von Presse-, Informations- und Bewegungsfreiheit.
Beide haben Recht, und beide instrumentalisieren die Frage der Menschenrechte, wenn sie die sozialen und die politischen Garantien gegeneinander aufrechnen. „Es wird zuviel über Kuba polemisiert“, beklagte sich denn auch der kubanische Filmemacher Tomas Gutierrez Alea (Erdbeer und Schokolade) einst. „Unser Land wird entweder als kommunistische Hölle oder als kommunistisches Paradies gesehen. Dahinter verschwindet oft das reale Kuba.“
Woher kommen die Medien, die er in Umlauf bringt? „Wir erhalten Spenden von Freunden, die Kuba besuchen,“ antwortet Raúl. „Nichtregierungsorganisationen schenken uns Bücher, aber auch Technik und USB-Sticks, damit wir Dokumente selbst ausdrucken und weitergeben können.“ Unausgesprochen liegt die Frage nach der Unterstützung durch ausländische Botschaften in der Luft, natürlich. Raúl überrascht mich mit seiner Offenheit. „Natürlich haben wir Kontakt zu westlichen Botschaften, vor allem zu deren Presse- und Kulturabteilungen. Wir nutzen ihren Service, den sie allen Kubanern anbieten; versorgen uns dort mit Büchern, Zeitungen, Magazinen.“ Raúls Mutter, mindestens 70, serviert in einer Gesprächspause Espresso. „Wir erhalten kein Geld aus dem Ausland!“ Diese Feststellung ist Raúl sehr wichtig. „Die kubanische Regierung verbreitet Lügen über die unabhängigen Bibliotheken.“
Unabhängige Journalisten, Gewerkschafter und eben Bibliothekare, sie sind am meisten von Repression und Haft bedroht. Die Organisation Reporter ohne Grenzen führt Kuba in ihrer jährlichen Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 170, schlechter sei es um diese lediglich in fünf Staaten weltweit bestellt, etwa in Iran und in Nordkorea. Kann er noch ruhig schlafen? „Ich versuche, meine Ängste zu kontrollieren. Und: Unsere Arbeit trägt Früchte. Die kubanische Gesellschaft ist offener, als sie es nach der Revolution jemals war.“ Und wieder überrascht Raúl mich. „Die politische Polizei weiß, welche Arbeit ich mache.“ Wie bitte? Steht er also unter dem Schutz von jemandem, und sitzt nur darum nicht im Gefängnis? „Nein, die kubanische Regierung zahlt immer noch einen hohen politischen Preis für die vielen Verhaftungen und drakonischen Urteile im Jahr 2003, etwa bei Verhandlungen mit der EU und anderen Staaten. Deshalb zeigt sie derzeit einen gewissen Grad an Toleranz.“ 75 Oppositionelle waren damals im schwarzen Frühling zu Haftstrafen von insgesamt 1.475 Jahren verurteilt wurden.
Doch auch Raúl zahlt einen Preis für seinen Widerstand. Als der Student der Sozialen Kommunikation vor einigen Jahren die Forderung nach einer neuen Verfassung für Kuba unterschreibt, das Projekt Varela, muss er mit Anderen die Universität verlassen. „Noch bin ich ein freier Mann.“ Raúl lacht. „Doch die politische Justiz schwebt wie ein Damoklesschwert über uns. Und vielleicht erfährst du morgen schon, dass ich verhaftet worden bin.“ Als Raúl zur Toilette geht, flüstert Pablo: „Er selbst würde das nie sagen, doch Raúl gehört zu den herausragenden Aktivisten der kubanischen Opposition. Das solltest du wissen.“
Raúls Schlusswort? „Wir wollen ein besseres Kuba als das, wovon unsere Väter träumten. In dem Menschen Demokratie und gleiche Rechte genießen. Der so genannte Sozialismus hier funktioniert seit einem halben Jahrhundert nicht.“ Und da sei noch etwas. Raúls Augen glänzen wie die eines Jungen kurz vor der Bescherung. Ob ich ihm wohl Musik schicken könnte? Der kubanische Untergrund-Bibliothekar wünscht sich deutschen Mainstream-Rock, ausgerechnet von den Scorpions. Ich nicke höflich. Wenige Augenblicke später ist er schon wieder ganz politischer Aktivist. „Noch besser wäre es natürlich, der unabhängigen Bibliothek den Spielfilm Good Bye, Lenin! zu spenden.“
Auf der Rückfahrt weicht unsere Anspannung allmählich. Kurz vor dem Parque Central, im Herzen Havannas, kommt, wie aus dem Nichts, ein Polizist. Er will Pablos Ausweis sehen. „Ich weiß, dass ihr zusammengehört, wir beobachten euch schon länger.“ Obwohl er jung ist, weiß er, wie Druck funktioniert. Pablo ist starr vor Angst. Mein Puls rast. Hat es etwas mit dem Interview zu tun? „Was bist du bereit zu geben, damit dein Freund nicht die nächsten Tage auf der Wache verbringt?“, fragt der Polizist mich grinsend. Pablos Freiheit kostet an diesem Abend umgerechnet acht Dollar.