Text und Bild Øle Schmidt
»Mein lieber San Judas, pass gut auf meine Familie und auf meinen Sohn auf – er ist mein Leben. Bitte, sorge dafür, dass ich immer Arbeit habe. Du weißt, dass ich an Dich glaube und immer an Dich glauben werde. Ich ehre Dich und trage Dich auf meiner Haut.« Nach dem Gebet öffnet María wieder ihre Augen. Wie an jedem achtundzwanzigsten Tag eines Monats besucht sie die Prozession zu Ehren von San Judas Tadeo, dem Heiligen Judas Thaddäus. In der Kirche San Hipolito, im Herzen der mexikanischen Hauptstadt. Als María die große Figur aus Plastik in die Höhe reckt, gerät ihr kleiner Körper kurz aus dem Gleichgewicht. Während San Judas nun über ihrem Kopf voller Gleichmut in die Menge blickt, strahlen Marías Augen. Wenigstens für einen kurzen Augenblick. Normalerweise sind sie matt und stumpf von dem Klebstoff, den sie schnüffelt.
Marías Sohn war vor drei Jahren mit einer Lungenentzündung auf die Welt gekommen. Die Ärzte im Krankenhaus sagten ihr, er würde sterben. »Ich habe zu allen Heiligen gebetet«, erinnert sich die 22-Jährige, »doch meinem Sohn ging es nicht besser. Plötzlich kam mir San Judas in den Sinn. Ich habe ihn gebeten: Bitte hilf mir, ich kann ohne meinen Sohn nicht leben. Ich habe versprochen, ihm immer dankbar zu sein und ihn auf meiner Haut zu tragen – wenn er ihn rettet.«
Zwei Tage später wurde Marías Sohn von der Intensivstation auf die normale Station verlegt. Er war über Nacht gesund geworden. »Und dank San Judas ist er bis heute nicht mehr krank geworden«, sagt sie mit einem Schmunzeln.
Die Kirche San Hipolito ist hoffnungslos überfüllt an diesem Nachmittag, viele der Gläubigen warten darauf, dass der Priester ihre San-Judas-Figuren mit Weihwasser segnet. Auf dem Vorplatz drängen sich mittlerweile tausende Menschen. Es sieht eher nach einem Rockkonzert aus als nach einer religiösen Prozession.
Doch die Helden der zumeist jungen Mexikaner sind nicht Linkin Park oder Metallica, der Rockstar an jedem Monatsende ist hier San Judas. Nein, nicht der Judas, der Jesus verraten hat, sondern der andere Judas, der ihm bis in den Tod die Treue hielt. Das brachte ihm den Beinamen Tadeo ein – der Beherzte.
In der Bibel gilt San Judas als Patron der Verzweifelten und großer Helfer in schweren Anliegen. Der Bauer soll ein Verwandter Jesus’ gewesen sein, der ihn als einen der zwölf Apostel berief. Theologen sagen, San Judas verkündete das Evangelium in Judäa, Mesopotamien und Afrika, und wurde dort verfolgt. Es heißt, mit seiner großen Wundermacht habe er den Hass Andersgläubiger auf sich gezogen – die ihn schließlich erschlugen. Nach seinem Märtyrertod wurde sein Grab in der römischen Peterskirche zur Pilgerstätte. Im späten Mittelalter versprach Papst Paul III. denjenigen einen Ablass ihrer Sünden, die San Judas’ Grab besuchen – am 28. Oktober, seinem Gedenktag.
María hat sich San Judas verpflichtet. Für sie besteht kein Zweifel, dass er ihren Sohn auf wundersame Weise gerettet hat. Als sie ihn damals um Hilfe bat, legte María ein Versprechen ab.
»Immer am Achtundzwanzigsten eines Monats zünde ich ihm eine Kerze an«, erklärt sie mir stolz. »Ich kaufe einen Rosenkranz, den ich ihm umhänge. Und ich habe San Judas die Tätowierung versprochen, damit ich mein ganzes Leben nicht vergesse, dass er dieses Wunder für meinen Sohn vollbracht hat.«
In der mexikanischen Hauptstadt ist San Judas seit einigen Jahren eine Art religiöser Kurt Cobain; der Erlöser für die Kleindealer und Gelegenheitshuren, für die Tagelöhner, Obdachlosen und Drogennutzer. Für all die Vergessenen und Aussortierten an der Peripherie, die Papst Franziskus besonders am Herzen liegen. Sie sehen in San Judas die himmlische Lebensversicherung in einem Land ohne irdisches Sozialsystem.
Für María steht fest, dass sie San Judas noch mehr verdankt. Vor der Geburt gab sie die Arbeit in einer Druckerei auf. Ihr nächster Job war so anstrengend, dass sie ihren Sohn kaum sehen konnte. Weil die Arbeit in der Druckerei perfekt für sie war, wendete sie sich an San Judas. »Ich habe ihm gesagt, dass ich kein schlechter Mensch bin und gerne arbeite. Und dass ich seine Hilfe brauche, um meinen Job zurückzubekomme. Einige Tage später ruft meine Ex-Chefin an und fragt mich, ob ich nicht wieder anfangen möchte«, erklärt María.
Die Kirche San Hipolito ist umzingelt von der Moderne. Ungetüme aus Glas, Stahl und Beton ragen in den Himmel. Von einem riesigen Bildschirm schreien die Aktienkurse. Wie ein Pulsschlag blinkt der Schriftzug Coca Cola auf einem Hochhaus. Mittendrin steht das Gotteshaus mit seinen verwunschenen Türmen und der bröckeligen braunen Fassade, umgeben von erhabenen Bäumen. Weit und breit das einzige Gebäude mit Vergangenheit. María blickt zufrieden in die Menschenmenge, sie lauscht dem babylonischen Stimmengewirr.
San Judas Superstar: der Patron der Vergessenen und Abgehängten ist allgegenwärtig an den vielen Verkaufsständen. Sein Konterfei ist ein Versprechen auf Glück. Geprägt auf kleinen Amuletten, gedruckt auf Gebetskarten für Liebesangelegenheiten und Jobgarantie, gesprüht auf T-Shirts. Der Handel mit den San-Judas-Devotionalien floriert. In der Luft liegt der Geruch von Klebstoff. Weil Kokain unerschwinglich für sie ist, schnüffeln viele Jugendliche aus der mexikanischen Unterschicht.
In Alfredos altem Kinderzimmer regieren Gestalten der Finsternis. Hier tätowiert der 37-Jährige, wenn er seine Familie im Barrio Santo Domingo in Mexiko-Stadt besucht. An der Wand hängt eine Holzmaske mit diabolischen Hörnern. Der geschnitzte Teufel hat die Blutunterlaufen Augen weit aufgerissen und zeigt seine gefletschten Zähne. Von der Decke baumelt ein Engel mit goldener Trompete. Er hat kein Gesicht – nur einen Totenkopf.
Alfredos gibt María die letzten Instruktionen, bevor er sie tätowiert. Es ist ein großer Tag für sie. Endlich kann sie ihr Versprechen an San Judas einlösen, sein Abbild für den Rest ihres Lebens auf der Haut zu tragen. Weil María vor zwei Jahren das Geld ausging, ist das Tattoo des Heiligen nie fertig geworden.
María hatte lange auf sich warten lassen. Kurz nach Mitternacht tauchte sie dann endlich auf. Ihre Gesichtszüge sahen seltsam verschoben aus, die Augen sprühten Funken. Während Fredi sie nun tätowiert, stürzen die Worte aus Marías Mund. Ihre Poren dünsten den billigen Klebstoff aus. Sie weiß, dass wir es wissen, natürlich. María lächelt entschuldigend. Ihre Jogginghose ist fleckig, das Oberteil zerlöchert. Sie sieht älter aus als zweiundzwanzig, das Leben hat tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.
María war fünfzehn, als sie den Vater ihres Sohnes kennenlernte. Anfangs lief es gut mit den beiden, erzählt sie. »Dann wurde ich schwanger. Wir haben unseren Sohn im Gefängnis gezeugt. Mein Freund sollte damals ein geklautes Auto reparieren. Die Polizei hat ihn dann des Autodiebstahls beschuldigt und wegen Verdunklung einer Straftat angeklagt. Er saß zwei Jahre im Gefängnis.«
Während ihr Freund noch seine Strafe verbüßte, brachte María ihren Sohn in der Grenzstadt Tijuana alleine zur Welt. Weil er nach seiner Entlassung mehr und mehr Alkohol trank, trennte sich María schließlich von ihm. Maria muss nun ihr eigenes Geld verdienen, ihr Sohn lebt im täglichen Wechsel bei ihr und bei ihrer Mutter. Sechs Tage in der Woche arbeitet sie in der Druckerei, María verdient 4000 Pesos im Monat, etwa 220 Euro. Davon kann sie Lebensmittel, Miete und Strom bezahlen; Krankheit oder Arbeitslosigkeit kann María sich nicht leisten. Dennoch ist sie San Judas dankbar für ihren Job in der Druckerei.
»Natürlich regelt er nicht meine Angelegenheiten«, sagt María, »aber er hilft mir. Für mich bedeutet San Judas: Liebe. Er ist jemand, dem ich vertraue, ich werde immer an ihn glauben.« Nach drei Stunden ist das Tattoo fertig gestochen. Ein vierfarbiger San Judas blickt von nun an nachsichtig von Marías rechter Wade.
Zwei Tage später führt mich der Tätowierer durchs Barrio Santo Domingo, dem Armenviertel, wo María und Alfredos Familie Tür an Tür leben. Wir stoppen an einem Straßenstand, an dem hunderte Raubkopien von Reggaeton-CDs angeboten werden. Reggaeton ist der Soundtrack einer Jugendkultur aus dem Barrio, die San Judas verehrt. Er ist schweißtreibend und anzüglich. Zum Reggaeton tanzen die Jugendlichen Pereo, ein urbanes Paarungsritual in Musikclip-Ästhetik. Den Hüftschwung lockert der geschnüffelte Klebstoff.
Auch María lebt diese kuriose Mischung aus Tanz, Rausch und Glauben. Wir sind auf der Suche nach ihr, die letzten Verabredungen hat sie ohne Nachricht platzen lassen. Die Nacht ist angenehm, eine kühle Brise lässt die Bewohner des Barrios aufatmen. Zwei Blocks weiter treffen wir auf Guillermo und seine Frau Ángeles. Auch die Bekannten von Alfredo berichten Wundersames von San Judas. »San Judas ist unser wichtigster Heiliger, weil er uns viele Gefallen getan hat«, sagt María de los Ángeles. »Zum Beispiel, als meine Tochter an Leukämie erkrankt war. Wir haben eindringlich für sie gebetet, und dank ihm hat sie überlebt.«
Als die 35-Jährige vor einigen Jahren im Krankenhaus lag, machte auch ihr Mann Guillermo eine Erfahrung mit San Judas: »Meine Frau war in Lebensgefahr. Ich habe mich dann zur Kirche San Hipolito durchgefragt und mein erstes Heiligenbild von San Judas gekauft. Ich habe für sie gebetet, sie lag auf der Intensivstation und war nicht ansprechbar. Als ich dann ins Krankenhaus zurückkam, war sie aufgewacht.«
Guillermo trägt Blaumann und Schnäuzer. Obwohl er gerade von der Arbeit kommt, sind seine Haare perfekt mit Gel zurückgekämmt. Seine Autowerkstatt liegt an der Ecke, wo die Crackdealer in drei Schichten ihr aufgekochtes Kokain verkaufen. Erst vergangenen Monat war dort jemand erschossen worden. Guillermo lässt es sich nicht nehmen, uns seinen San-Judas-Schrein zu zeigen. Nach der Gesundung seiner Frau hatte er eigens dafür einen Erker an sein Haus gebaut. Seitdem setzt eine blinkende Lichterkette den Heiligen hinter Glas ins rechte Licht.
Die Taxifahrer aus dem Zentrum der Hauptstadt weigern sich, nach Santo Domingo zu fahren. Zu viele Drogen, zu viel Gewalt, schimpfen sie. Das Armenviertel gehört zu den Barrios in ganz Lateinamerika, die am dichtesten besiedelt sind. Anfang der Siebzigerjahre war es eine Brachfläche im rasant wachsenden Mexiko-Stadt. Dann besetzten Menschen ohne Obdach das Land, und errichteten Hütten aus Pappe und Wellblech. Als Polizisten die Provisorien niederbrannten, zündeten die Bewohner die Streifenwagen an – und blieben. 1983 legalisierte die Stadtverwaltung das Barrio.
Tiefer Glaube oder religiöser Sekundenschlaf, himmlische Sozialkasse oder schlichte Hysterie? Die Frage nach dem Wesen der Verehrung von San Judas ist nicht einfach zu beantworten. Offensichtlich ist, dass die Abneigung vieler Menschen gegen die korrupte politische Klasse leidenschaftlich ist. Sie haben die Hoffnung längst aufgegeben, dass Politiker und Parteien die schmerzende Ungleichheit kurieren wollen und die extreme Gewalt im Norden des Landes bändigen können. Trost suchen sie bei den Heiligen, die im katholischen Mexiko ungebrochen als Heilsbringer verehrt werden.
Während Padre Ernesto von der Liebe Gottes spricht, knien die Gläubigen auf den alten Holzbänken in der Kirche San Hipolito. Ihre Lilien und Rosen haben die Bühne in ein Blumenmeer verwandelt. Mittendrin: die mexikanische Flagge. Der Altar ist eingerahmt von langen San-Judas-Bannern aus Plastik. Padre Ernesto trägt ein festliches Messgewandt. Wer den Blick tiefer gleiten lässt, sieht seine Jeans und die Sportschuhe herausschauen. Zum Interview nach dem Gottesdienst verspätet sich der Padre. Seine Assistentin reicht uns ein Hochglanzmagazin der Gemeinde mit Wundergeschichten von San Judas und zwei Flaschen Tafelwasser der Marke: San Judas Tadeo. Eiligen Schrittes betritt der 49-Jährige den Balkon des Pfarrhauses.
Seit sechzig Jahren werde San Judas in Mexiko-Stadt verehrt, erzählt der Padre. Seitdem erlebt er einen rasanten Aufstieg im Pantheon der frommen Hauptstadt. In den Fünfzigerjahren wurde die erste San-Judas-Statue in San Hipolito aufgestellt, seit den Sechzigern ehren ihn seine Anhänger immer am achtundzwanzigsten Tag. In den Neunzigerjahren kamen erstmals so viele Gläubige, dass die Kirche zu klein wurde. Seit nun zehn Jahren besuchen mehr und mehr Menschen, vor allem Jugendliche, die Prozessionen. Die meisten aus Armenvierteln, viele mit Gewalt- und Drogenerfahrungen. Wie erklärt Padre Ernesto sich den wachsenden Kult? »Viele der Gläubigen erfahren eine Wohltat, ein Wunder«, antwortet er, »und davon berichten sie den Anderen, die sich dann auch an San Judas wenden. In den Familien geben Väter und Mütter ihren Glauben an die Kinder weiter.«
Weltlich betrachtet ist der große Zulauf zu San Judas alles andere als ein Wunder. Im Mexiko dieser Tage lähmt die Korruption das gesellschaftliche Leben; verletzen Mafiakartelle, Polizei und Armee gleichermaßen die Menschenrechte. Und vor allem: Kann es eine berechtigte Hoffnung auf Glück geben, wenn die Hälfte der 112 Millionen Einwohner arm ist, während allein der Unternehmer Carlos Slim mehr als 70 Milliarden Dollar besitzt? Die Herkunft der Prozessionsteilnehmer ist eindeutig, sagt Padre Ernesto, die meisten kämen von den Rändern der Stadt. »Jesus sagt im Evangelium: Ich komme für die Kranken, nicht für die Gesunden. Weil die Gesunden den Arzt nicht brauchen. Danach handeln wir und kümmern uns in der Kirche um die Vielen, die aus benachteiligten Vierteln stammen«, ergänzt er.
Dass der Zulauf zu den Prozessionen ausgerechnet seit dem Jahr 2004 sprunghaft steigt, ist auch politisch zu erklären. Damals verschlechterte sich die soziale und wirtschaftliche Situation vieler Mexikaner dramatisch. Zehn Jahre nach der Unterzeichnung des NAFTA-Handelsvertrages zwischen Mexiko, Kanada und den USA hatte sich das Heilsversprechen des freien Marktes für viele als Alptraum herausgestellt. Auf dem Land verließen Hunderttausende ihren Grund und Boden, um Arbeit in den Metropolen zu suchen. Die Agrarsubventionen der US-Regierung hatten die Bauern in dem Billiglohnland Mexiko in die Knie gezwungen. Haben auch sie und ihre Familien etwas von San Judas zu erwarten?
Padre Ernesto denkt kurz nach. »Es heißt ja, das San Judas der Anwalt der schwierigen und verzweifelten Fälle ist. Er ist der letzte Anker, das göttliches Element, das ihnen Schutz, Annahme und wenigstens etwas Hoffnung gibt.«
María sitzt unruhig auf dem Stuhl neben mir. Die ganze Zeit hat sie Padre Ernesto schweigend zugehört. Am Morgen war sie plötzlich aufgetaucht, müde sah sie aus. Sie wolle den Padre kennenlernen, sagte sie; den, der ihre San-Judas-Figur schon so oft in dieser Kirche gesegnet hat. Während María Padre Ernesto mustert, ist sie in Gedanken schon bei der nächsten Prozession für San Judas. Wofür wird sie San Judas dann um Unterstützung bitten, möchte ich von María wissen? Wie geht es weiter mit ihrem Leben?
»Wenn ich ehrlich bin, würde ich gerne damit aufhören, Klebstoff zu schnüffeln, das nimmt etwas überhand in letzter Zeit«, antwortet María nachdenklich. »Ich sollte weniger auf Partys gehen. Mein größter Wunsch ist, ganz für meinen Sohn da zu sein. Arbeiten, arbeiten und mein Sohn – das ist meine Zukunft.«