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Die Geschichte ist eine Prophetin
Das Leben in Mexiko, Papst Franziskus und der Teufel


Eine festlich geschmückte Kirche in San Cristobal de Las Casas, Mexiko.

Text und Bilder Øle Schmidt

Zum ersten Mal stammt ein Papst aus Lateinamerika. Doch was halten die Menschen dort von Franziskus, der sich als Kirchenrebell gibt? Und welche Umstände bestimmen ihr eigenes Leben? Zu Besuch in San Cristóbal de Las Casas, einer rebellischen Stadt im Süden Mexikos. 100 Tage nach der Wahl des neuen Papstes.

Mit Betreten des staubigen Platzes setzt eine Symphonie von Reizen ein. Der Duft von frischem Obst vermischt sich mit den aufgewirbelten Gerüchen fauliger Abfälle. Irgendwo schreit ein Fernseher, woanders plärrt übersteuerter Cumbia aus einem Radio. Über allem liegt ein babylonisches Stimmengewirr. Eine Zumutung. Pures Leben. Auf dem großen Markt in San Cristóbal de Las Casas, im Bundesstaat Chiapas, bieten überwiegend Indigenas ihre Waren an, die Nachfahren der Ureinwohner. So wie Andrea de Socoro. Die 48-Jährige vom Volk der Tzotzil verkauft traditionelle Blusen an ihrem Stand. Sie habe in der Zeitung gelesen, dass es einen neuen Papst gibt. Sie nickt. Nein, seinen Namen kenne sie nicht. „Er kommt doch aus Rom, oder?“

Als wir Andrea sagen, dass Panchito, wie Franziskus in Mexiko liebevoll genannt wird, Argentinier ist, schenkt sie uns ein Lächeln. Wird mit ihm, dem ersten Papst aus Lateinamerika, jetzt alles besser? „Nein“, ist An-drea sicher, „der Papst kann nur etwas ändern, wenn die Menschen sich ändern. Und wir haben viele Probleme hier: Hunger, Ungerechtigkeit und eine korrupte Justiz lösen eine große Traurigkeit in uns aus.“ Andrea blickt nun ernst. Viele Indigenas, die sich mit ihren unwürdigen Lebensbedingungen nicht abfinden wollten, säßen ohne Grund im Gefängnis. „Es liegt an uns, ob der Teufel uns Menschen dominiert. Wenn wir uns gegen Ungerechtigkeit organisieren, dann können wir ihn besiegen“, sagt sie überzeugt.

Es ist unwahrscheinlich, dass der neue Papst Andreas Interpretation des Teufels folgen würde. Auch wenn Franziskus den Teufel nach seiner Wahl nicht gerade dezent wieder auf die katholische Agenda gesetzt hatte. „Wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel,“ hatte er gesagt. Ein Zitat des französischen Schriftstellers Leon Bloy mit überschaubaren Sympathieeffekten für die Kirche. Selbst Katholiken wunderten sich über diesen Ausspruch. Doch wie dachten die Menschen aus der Heimat Franziskus’ über den Gegenspieler Gottes?

Korruption, gewaltiger Machtwille und Straflosigkeit

Anders als Andrea ist den meisten Mexikanern die politische Justiz in ihrer Heimat nicht mehr der Rede wert, zu sehr haben sie sich an Korruption, gewaltigen Machtwillen und Straflosigkeit gewöhnt. Zum Beispiel der Fall Acteal. Am 22. Dezember 1997 überfielen Paramilitärs einen katholischen Gottesdienst in der Tzotzil-Gemeinde. Sie töteten 45 Menschen, darunter Kinder und schwangere Frauen. Die Indigenas mussten sterben, weil sie es gewagt hatten gegen die Regierung zu protestieren. Friedlich. Menschenrechtler zeigten daraufhin Ernesto Zedillo wegen Verbrechens gegen die Menschheit an, über die Aufnahme des Verfahrens ist bis zum heutigen Tag nicht entschieden. Er hatte den Aufbau paramilitärischer Einheiten politisch empfohlen und finanziell wie logistisch unterstützt. Zedillo war von 1994 bis 2000 Präsident von Mexiko.

„Der Papst ist ein Voludo!“ Jetzt mischte sich Andreas Standnachbarin Herlinda in das Gespräch ein. Der Begriff aus der argentinischen Heimat des Kirchenoberhauptes lässt sich wohlwollend mit „Idiot“ übersetzen. Herlinda hatte einen triumphalen Blick aufgesetzt. „Auch wenn Franziskus sein Amt in Bescheidenheit angetreten hat, ist er ein Wolf im Schafspelz. Nichts wird sich ändern, gar nichts!“ Dann geht sie zurück zu ihrem kleinen Schmuckstand. Glaubt sie denn wenigstens an den Teufel, wenn schon nicht an den Papst? „Natürlich“, antwortet Herlinda resolut. „Wir alle tragen den Teufel in uns, er offenbart sich, wenn wir etwas Schlechtes tun.“

Las Casas wird Bischof in San Cristóbal

Es war nicht weniger als eine Revolution, die Bartolomé de Las Casas zu Beginn des 16. Jahrhunderts auslösen sollte. Der Dominikanermönch war mit dem Seefahrer Columbus in die neue Welt aufgebrochen. Und er hatte mitangesehen, was die Spanier in Lateinamerika anrichteten. Den bis heute ungesühnten Völkermord an den indigenen Ureinwohnern. Und den Diebstahl ihres Goldes und ihrer Bodenschätze – der Startschuss eines entfesselten und globalen Marktes.

Unter diesem Eindruck sprach Las Casas den Indigenas allgemeine Menschenrechte zu, eine Revolution im politischen Europa und in der katholischen Kirche, die bei der Conquista, der blutigen Eroberung Lateinamerikas, schwere Schuld auf sich lud. Im Jahr 1544 trat Las Casas sein Bischofsamt im mexikanischen San Cristóbal an, das heute stolz seinen Nachnamen trägt.

Mehr als 500 Jahre später, vollzieht sich zumindest eine kleine Revolution: Franziskus ist der erste Papst, der nicht aus Europa kommt. Der Lateinamerikaner beschwört eine „arme Kirche für die Armen“, und richtet das Wort an die Vergessenen an der Peripherie. Eine atemberaubende Volte der Geschichte: Die Überfallenen von einst, von denen viele zum Christentum gezwungen worden waren, stehen nun der Kirche ihrer damaligen Besatzer vor. Es wird dauern, bis diese Erkenntnis in Europa ankommen kann. So lange, bis wir Licht in einen blinden Fleck unserer Geschichte bringen: Der europäischen Terrorherrschaft fielen 60 bis 70 Millionen Indigenas zum Opfer – etwa 90 Prozent der damaligen Bevölkerung.

„Für mich gibt es keinen Teufel“

Solange die Bohnen in den großen Trichter fallen, ist die Lautstärke erträglich. Das ändert sich, als die Kaffeemühle einsetzt. Alfredo ist den Lärm gewohnt. Der Kaffeebauer hat sich mit fast 1000 Kollegen in der Kooperative Machomut zusammengeschlossen. Nur gemeinsam können die Campesinos einen Preis erzielen, der sie nicht hungern lässt wie noch ihre Väter. Der Bundesstaat Chiapas gehört zu den ärmsten in Mexiko, nirgendwo sonst in dem riesigen Land leben mehr Indigenas. Und das eine bedingt das andere.

Auch Alfredo ist Indigena. Der 38-Jährige wünscht sich, „dass der Papst seinen Einfluss nutzt, um Respekt für die Kulturen der Ureinwohner Lateinamerikas einzufordern.“ Beschämend ist die Gründungsgeschichte der Fair-Trade-Kooperative. Wie viele andere hatte auch Alfredo Vater noch auf den Plantagen deutscher Kaffeebarone in Chiapas geschuftet. Die zahlten derart schlecht für die harte Arbeit, dass sich die Campesinos manchmal nicht einmal die Rückfahrkarte in ihre Heimatdörfer leisten konnten. Also pflanzten sie die Kaffeebohnen, die sie in ihren Hosentaschen herausschmuggelt hatten, auf ihren eigenen Feldern an – die Geburtsstunde von Majomut.

Alfredo spricht leise und bedacht, er ist ein höflicher Mensch. Weil er weiß, dass viele Europäer anders denken, gehen ihm die folgenden Sätze nicht leicht über die Lippen. „Ich teile die Meinung von Franziskus. Auch ich möchte nicht, dass Homosexuelle gleichberechtigt heiraten dürfen. Die Gesellschaft verfällt. Ich akzeptiere Homosexualität, heiße sie aber nicht gut.“ Auch wenn er es nicht allzu oft in die Kirche schaffe, sei er gläubiger Mensch, sagt Alfredo. Doch über eine Sache denke er anders als der neue Papst. „Für mich gibt es keinen Teufel. Menschen tuen Böses, weil sie es tun, und nicht, weil der Teufel dahinter steckt. Jeder muss selbst entscheiden, wie er handelt.“

Frauen sollen Priester werden können

Tampons, Handykarten, Schokoriegel. Es gibt eigentlich nichts, was es in Marvilenas kleinem Laden nicht zu kaufen gibt. Die 46-Jährige hatte sich hübsch gemacht, dabei war ihr Ausschnitt ein wenig groß geraten. „Vecinos unidos“ steht auf ihrer türkis getünchten Hausfassade, die schon bessere Tage gesehen hatte: „Vereinigte Nachbarn“. Dieses Frühwarnsystem wachsamer Viertelbewohner gibt es, weil die mexikanische Polizei nicht in dem Ruf steht, für Sicherheit zu sorgen. Wie fast allen schmeichelt es Marvilena, dass Franziskus Lateinamerikaner ist. Seine wichtigste Aufgabe? „Der neue Papst sollte den Armen helfen. Denen, die nichts besitzen und an Hunger leiden, aber auch den spirituell Armen. Neben Armut und Hunger ist die Gewalt unser größtes Problem,“ sagt Marvilena.

Der von Ex-Präsident Calderón gegen jede Vernunft ausgerufene „Krieg gegen die Drogen“ hat in sechs Jahren 100.000 Menschen das Leben gekostet. Die Kartelle lassen als Antwort entstellte Leichen von Brücken hängen und deponieren abgetrennte Köpfe in Wohnsiedlungen. Darüber gerät in Vergessenheit, dass der reichste Mann der Welt, der Mexikaner Carlos Slim, siebzig Milliarden Dollar schwer ist, während die Hälfte seiner 112 Millionen Landsleute in Armut lebt. 

Vergessen wird auch, wie gewalttätig der mexikanische Staat ist. Zum Beispiel der Fall Atenco. Im Mai 2006 stürmten 3.000 schwer bewaffnete Polizisten unter Einsatz von Schusswaffen eine Blockade von Straßenhändlern. Während sie die Stadt verwüsteten und Demonstranten wie Vieh jagten, erschossen sie einen 14-Jährigen. Die nationale Menschenrechtskommission listet danach 200 Opfer von Gewaltmissbrauch durch Polizisten auf und 26 Vergewaltigungen. Der Gouverneur des Bundesstaates jener Tage bleibt unbehelligt. Sein Name ist Enrique Peña Nieto. Er ist heute Präsident von Mexiko.

An den Teufel glaubt Marvilena übrigens nicht, dafür hat sie eine ganz weltliche Empfehlung für Franziskus: „Ich finde es gut, wenn Frauen eines Tages Priester werden können, das gehört zur Gleichberechtigung.“

Die Bibel und das tägliche Leben

Die festlich geschmückte Kathedrale ist so voll besetzt an diesem Sonntag, dass die Predigt auf den Platz davor übertragen wird. Alte und Junge sind gekommen, die ganz Jungen krabbeln auf dem Boden. In Lateinamerika ist ein Gottesdienst Familienangelegenheit. In dieser Kathedrale hatte der damalige Bischof Samuel Ruiz 1994 die indigenen Rebellen und die mexikanische Regierung zu Friedensgesprächen gerufen. Die katholischen Männer und Frauen der zapatistischen Guerilla hatten die Waffen erhoben, um Brot, Bildung, Gesundheit und Respekt vor ihrer Kultur einzufordern. Für einige Tage blickte die Welt gebannt auf San Cristóbal.

Humberto Arriaga hatte Bischof Ruiz in Chiapas kennengelernt. Der 67-Jährige ist Pater einer indigenen Gemeinde und in der Diözese San Cristóbal für Kommunikation und Medien verantwortlich. Arriaga, selbst Jesuit, ist beeindruckt von seinem Ordensbruder Franziskus. „Es war ein wichtiges Zeichen, dass er auf dem Balkon am Petersplatz zuerst den Kontakt mit den Gläubigen gesucht hat“.

Arriaga sucht den Kontakt zu seinen traditionellen Gemeindemitgliedern auch schon mal auf ungewöhnliche Weise, wenn er ihnen zum Beispiel Psychotherapie und Bioenergetik anbietet – und das als Pater. „Das ist ein Wesenszug des Pastorals in Lateinamerika“, sagt er, „zu spüren, was die Menschen brauchen und was wichtig für sie ist. Ihnen mehr als theologische und moralische Anweisungen zu geben.“ Jünger wirkt er, wie er so dasitzt in seiner Lederjacke, und regelmäßig auf sein Smartphone schaut. „Der verstorbene Bischof Samuel Ruiz hatte uns darauf eingeschworen, den Indigenas nicht nur die Bibel zu lesen zu geben, sondern sie auch im täglichen Leben zu unterstützen“, erinnert sich Arriaga. Ein Jahr nach Beginn der Friedensgespräche, 1995, überlebte Samuel Ruiz einen Anschlag paramilitärischer Gruppen auf sein Leben nur knapp. Für seinen unerschrockenen Einsatz für die Würde der Indigenas wurde er in den kommenden Jahren dreimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Der Schriftsteller Eduardo Galeano hatte einst geschrieben: „Die Geschichte ist eine Prophetin mit rückwärts gewandtem Blick; aus dem, was war, und gegen das, was war, kündet sie das Kommende.“ Warum also sollte Papst Franziskus eine moralische Erneuerung nicht mit einem Rückblick einleiten. Genauer gesagt: mit einer Geste der Entschuldigung. Für die Mitschuld der katholischen Kirche an Folter, Versklavung und Mord bei der Eroberung Lateinamerikas durch die Europäer. Franziskus hat die historische Chance, das Schweigen zu brechen. Als Lateinamerikaner mit europäischen Wurzeln.

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