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Ein historischer Moment und sein verdrängter Schatten
Mehr als 500 Jahre nach der Conquista hat Papst Franziskus das indigene Mexiko besucht – ausgerechnet in San Cristóbal de Las Casas.


Begrüßung auf Spanisch und in zwei indigenen Sprachen – „Willkommen Papst Franziskus“

Text und Bilder Øle Schmidt

Es war ein starkes Zeichen des Symbolpolitikers Franziskus: Bei seinem Besuch in Mexiko, dem Land mit der zweitgrößten katholischen Bevölkerung, machte der Papst Station in San Cristóbal de Las Casas. So weit, so normal im katholischen Tourneeplan, könnte man meinen. Doch San Cristóbal liegt in Chiapas, dem armen Süden von Mexiko, dem indigenen Mexiko der Ureinwohner. Und das Zweite bedingt das Erste. In Chiapas gilt auch mehr als 500 Jahre nach der Conquista, der grausamen Eroberung Lateinamerikas durch Kolumbus, Cortez und Pizarro: je weniger hell die Haut eines Menschen, desto weniger Teilhabe und Würde hat er zu erwarten, vom Geld ganz zu schweigen. Eine Tragödie für die dunkelhäutigen Indigenas. Damals wie heute.

Nicht nur deshalb ist es statthaft, den päpstlichen Besuch in San Cristóbal auch als Kritik an der Armut der Indigenas zu lesen, und als Fingerzeig auf die historische Kontinuität dieser Ungerechtigkeit.

Die Steilvorlage dafür kam von Franziskus höchst selbst, als er bei seinem Bolivienbesuch vergangenen Sommer das tat, wofür er geliebt und gehasst wird: Tabus zu brechen. Symbolische Tabus. „Ich bitte demütig um Vergebung“, sagte er damals, „nicht nur für die Vergehen der Kirche, sondern auch für Straftaten, die gegen die einheimischen Völker während der Eroberung von Amerika verübt wurden.“

Damit hatte das Kirchenoberhaupt die kollektiven Leiden der Indigenas während der Conquista anerkannt, und zumindest eine Mitverantwortung der katholischen Kirche für den Völkermord übernommen. Als erster Papst.

Ein rebellischer Papst in einer rebellischen Stadt

Doch auch für die mediale Pflege von Franziskus’ Markenkern war der Besuch von San Cristóbal ein echter Coup. Denn so wie der Pontifex in schöner Regelmäßigkeit die moralischen Bewahrer in seiner Kirche herausfordert, hat sich die Stadt in der Hochebene von Chiapas immer wieder gegen Obrigkeiten aufgelehnt.

Ein rebellischer Papst in einer rebellischen Stadt.

In einer scheinbar alternativlosen Zeit, in der mehr und mehr Menschen sich machtlos fühlen gegenüber den wenigen Mächtigen dieser Welt, kann ein unbeugsamer Papst eine moralische Lebensversicherung sein. Zumal für eine kriselnde Kirche, die um ihren Platz in einer zunehmend säkularen Welt ringt.


Überdimensionale Kinderaugen auf einem Banner vor dem Stadion – „Lasst uns die Revolution der Zärtlichkeit beginnen“

Ein rebellischer Papst, der sich traut, die Pharisäer in seiner Kirche zu benennen; der so leidenschaftlich den Kapitalismus für seine Gier und seine Zerstörungslust kritisiert; der es wagt, den irgendwie abhanden gekommenen Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils wiederzubeleben: eine arme Kirche für die Armen aufzubauen.

Der Stadt San Cristóbal de Las Casas steht die Rebellion schon im Namen geschrieben. Fray Bartolomé de Las Casas war während der Conquista Bischof in der Stadt. Ein katholischer Rebell seiner Zeit, der den Indigenas Menschenrechte zusprach, als andere sie noch für Tiere hielten. 1994 nahm der Aufstand einer indigenen Guerilla seinen Anfang in San Cristóbal. Schlachtruf der Zapatisten war: Ya Basta! 500 Jahre koloniale Unterdrückung sind genug! Weil die Regierung mit Bomben auf Holzgewehre antwortete, öffnete der damalige Bischof Samuel Ruiz die Tore seiner Kathedrale in San Cristóbal für Friedensgespräche. Übrigens gegen den Widerstand des mexikanischen Klerus’. Sein rebellischer Geist brachte Ruiz drei Nominierungen für den Friedensnobelpreis ein, und einen erfolglosen Anschlag auf sein Leben.

Eine Verbeugung vor dem indigenen Mexiko

Es waren düstere Vorboten, die den Hoffnungsträger ankündigten. Dumpf dröhnten die Rotoren des Hubschraubers, der Papst Franziskus nach San Cristóbal brachte. Ein Geräusch, das so mancher der anwesenden Indigenas von gewalttätigen Einsätzen der mexikanischen Bundespolizei kennt.

Doch dieser sonnige Morgen sollte anders verlaufen: Es war ein wahrhaft historischer Augenblick, dem die Versammelten im Stadion von San Cristóbal beiwohnten. Etwa hunderttausend waren gekommen, die meisten von ihnen Indigenas. Und sie konnten hören, wie der Papst aus dem fernen Rom seine Predigt in den Worten einer indigenen Sprache begann. Ihrer Sprache.

Sie alle waren Zeugen der ersten Verbeugung eines Papstes vor dem indigenen Mexiko. Und das vom Oberhaupt einer Kirche, die mehr als fünfhundert Jahre hellhäutig und europäisch war, den dunkelhäutigen Ureinwohnern gegenüber rassistisch und arrogant.


Symbolpolitik: Indigenas warten auf den Einlass zur Papstmesse – in farbigen Trachten, die ihnen von den europäischen Conquistadoren aufgezwungen worden waren.

„Eure Völker sind oft in systematischer und struktureller Weise verkannt und ausgegrenzt worden. Einige haben eure Werte, eure Kultur und Traditionen für minderwertig gehalten“, sagte der rebellische Franziskus.

Zur Verblüffung der Anwesenden wurde die spanischsprachige Predigt des Papstes übersetzt, Lesungen und Gebete in den indigenen Sprachen Tzotzil, Tzeltal und Tojolabal vorgetragen, eingerahmt von traditionellen Tänzen und Gesängen. So etwas hatte es noch nicht gegeben im indigenen Mexiko.

Dieser kulturelle Kniefall war das vielleicht stärkste Zeichen von Papst Franziskus, diesem Meister des Symbolischen. Eine späte Genugtuung für die Indigenas, die noch in den Siebzigerjahren auf den Straßen von San Cristóbal gehen mussten, weil die Bürgersteige exklusiv den Mestizen vorbehalten waren, den hellhäutigen Nachfahren der Conquistadoren. Fünfhundert Jahre Apartheid, für die sich der Rest der Welt nicht interessiert hat.

Und Franziskus legte nach. „Andere haben - gleichsam trunken von Macht, Geld und den Gesetzen des Marktes - euch eures Bodens beraubt oder ihn verseucht. Wie traurig! Wie gut täte es uns allen, unser Gewissen zu erforschen und zu lernen, um Verzeihung zu bitten! Verzeiht uns, Brüder!“

Dass Papst Franziskus nach der Messe in der Kathedrale von San Cristóbal das Grab des im Jahre 2008 gestorbenen Samuel Ruiz besucht hat, war eine Verbeugung vor dem Befreiungstheologen. Und es war eine kalkulierte Zumutung für den konservativen Klerus in Mexiko, der den Bischof zu Lebzeiten verteufelt hatte.

Unter Führung der spanischen Krone, unter dem Banner der Kirche

An dieser Stelle muss das Loblied auf Franziskus enden. Weil über seinem historischen Besuch des indigenen Mexikos ein verdrängter Schatten liegt.

Dass der Papst bei seiner Messe in San Cristóbal die Ausbeutung der Indigenas in einem Atemzug mit globalisierter Profitgier genannt hat, mag verführerisch sein. Doch er weiß selbst, dass dies nur die halbe Wahrheit ist.


Der päpstliche Gottesdienst im Stadion von San Cristóbal – vor der Kulisse der historischen Altstadt.

Denn der Rassismus gegen die Indigenas, ihre Armut und ihr gesellschaftlicher Ausschluss, sie sind strukturell – und sie haben eine lange Geschichte. Diese beginnt, als der Seefahrer Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzt. Was noch immer zynisch als „Entdeckung“ Amerikas verkauft wird, war nichts anderes als die Eroberung und Ausplünderung eines ganzen Kontinentes, die Versklavung und Auslöschung seiner Bewohner.

Bis zu siebzig Millionen Indigenas sind der Conquista zum Opfer gefallen, etwa neunzig Prozent der damaligen Bevölkerung. Der wohl größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit; unter Führung der spanischen Krone, unter dem Banner der katholischen Kirche.

Die katholische Kirche legitimierte Überfall und Terrorherrschaft der Conquistadoren als göttliche Mission, und trieb in ihrem Schatten die Zwangschristianisierung der Indigenas mit Feuer und Schwert voran. Das beschert der Kirche bis heute die religiöse Hegemonie in Lateinamerika.

Keine Ent-Schuldigung ohne Ent-Schädigung

Vor diesem Hintergrund erscheint eine Ent-Schuldigung der katholischen Kirche für den Genozid zwar recht; ohne Ent-Schädigung an die indigenen Völker Lateinamerikas aber auch ziemlich billig. Schamlos billig, angesichts prall gefüllter Tresore der Vatikanbank, unter anderem mit gestohlenen Schätzen aus Lateinamerika.

Mehr als 500 Jahre nach dem Völkermord der Conquista braucht es ein klares Bekenntnis. Es braucht die Aufarbeitung der kirchlichen Verbrechen durch eine Kommission, die daraus die Höhe von Reparationszahlungen ableitet; es braucht die Auflegung eines Marshallplans für den Wiederaufbau zerstörter indigener Strukturen und Ökonomien. Und es braucht einen Prozess der Versöhnung, in dem Autoritäten aus dem Vatikan und aus lateinamerikanischen Kirchen die lokalen indigenen Gemeinden um Verzeihung bitten.

Papst Franziskus hat mit der Entschuldigung für die Conquista und dem Besuch des indigenen Mexikos zwei wichtige Schritte getan. Um seine Kritiker Lügen zu strafen, die in ihm den sympathischen Insolvenzverwalter einer erschütterten Kirche sehen, wird er noch einige Sprünge brauchen.

Dann jedoch könnte sich der Symbolpolitiker Franziskus als wahrhaft humanistischer Kirchenrebell in die Geschichtsbücher eintragen. Als der Papst, der die Verbrechen der europäischen Katholiken an den lateinamerikanischen Indigenas gesühnt hat. Als Lateinamerikaner mit europäischen Wurzeln könnte er nebenbei die katholische Kirche für ihr wohl blutigstes Kapitel rehabilitieren.

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