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„Dann wäre es zu großen Aufständen gekommen“


Der 36-Jährige Merilien Hyacinthe vor dem Eingang seines neuen Hauses, das mit deutschen Spenden gebaut wurde.

Text und Bilder Øle Schmidt

Joseph Edner und Merilien Hyacinthe leben auf der Karibikinsel Haiti, dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Der eine plant den Bau und die Zuweisung von Häusern, der andere wohnt in einem dieser einfachen Häuser, die mit deutschem Geld entstanden. Betroffen von dem verheerenden Erdbeben vor fünf Jahren waren sie: beide. Zu Besuch in Petit-Goâve.

Joseph Edner überlegt nicht lange. „Dann wäre es in Haiti wohl zu großen Aufständen gekommen, zu blutigen Verteilungskämpfen um Wasser, Lebensmittel und Medikamente.“ Der Ingenieur der Welthungerhilfe bestätigt seine wenig dezente Einschätzung mit einem dezenten Kopfnicken. Die Frage war: Was wäre wohl geschehen, wenn – wie von nicht Wenigen gefordert – die vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen (NROs) das Land nach sechs Monaten Nothilfe wieder verlassen hätten? Joseph schüttelt nun etwas ratlos den Kopf, er kennt die medialen Erschütterungen in Deutschland über das attestierte Versagen von NROs auf Haiti, die jedes Jahr Mitte Januar einsetzen, pünktlich zum Jahrestag des Bebens. Arbeitstitel: Das Desaster nach dem Desaster.

„Die Kritik an NROs ist immens wichtig“

„Die Kritik an NROs ist immens wichtig“, sagt der 36-Jährige, der jetzt lächelt, „doch sie kann unsere Arbeit nur verbessern, wenn sie differenziert ist. Und es geht doch um ein besseres Leben der Haitianer, und nicht um die Kritik, oder?“

Von hier oben sehen die Berge am Firmament wie faltige Verwerfungen aus, die mit saftig grünem Samt bezogen sind. An ihrer höchsten Stelle stechen sie in die unwirklich aufgetürmten Wolken. Seit fast zwei Jahren nun lebt Merilien Hyacinthe in seinem neuen Haus, auf diesem Hügel mit dem phantastischen Panoramablick. Der groß gewachsene Mann ist in sich gekehrt, als er uns begrüßt. „Meine Frau ist vor sechs Monaten gestorben“, sagt er leise. Stille. Sollen wir lieber gehen? „Nein, nein“, antwortet der 32-Jährige, „ich möchte euch meine Dankbarkeit zeigen.“ Denn das Leben sei gut in dem Haus, das gerüstet ist gegen Erdbeben und Hurrikans, er und seine vier Kinder könnten wieder ohne Angst einschlafen. Endlich.

Auch für Meriliens Familie war mit dem Beben eine Welt zusammengebrochen, ihr Haus aus Lehm konnte diesen Urgewalten nicht standhalten. Es folgte ein Jahr unter Plastikplanen, „das war kein Leben“, betont er.

„Es war ein glücklicher Tag“

„Es war ein glücklicher Tag, als wir endlich einziehen konnten“, sagt der Bauer. Sie hätten geputzt, die Möbel ’reingetragen und am Abend ein kleines Fest gefeiert. „An einem 24. Dezember!“ Merilien lacht, „dieses Haus ist ein Geschenk des Himmels.“ Auf der kleinen Tafel hinter ihm, auf der seine Kinder Schreiben üben, steht: Gott ist groß!

Die Kinder könnten nun auch abends für die Schule lesen, dank der Solarzelle auf dem Dach. Bildung. Bildung ist das Wichtigste für Merilien. Seine Töchter und Söhne sollen es einmal besser haben als er, der nur vier Jahre zur Schule gehen konnte. Finanziell geht es der Familie schon jetzt besser als vor dem Beben. Die Helfer entfernen vor fast zwei Jahren mit Merilien das Unkraut auf seiner Parzelle und bepflanzen sie, nun weiß er, wie man Gemüse anbaut, jetzt sei er ein Bauer, sagt Merilien nicht ohne Stolz. Spinat, Tomaten, Auberginen und Paprika verkaufe er auf dem lokalen Markt. Davon könne er das Schulgeld zahlen. Merilien hat eine Ziege gekauft, und teilt seinen bescheidenen Wohlstand mit anderen, die weniger Glück haben.

Am 13. Januar 2010 sitzt Joseph vor dem Fernseher, als die Erde zu beben beginnt. Geistesgegenwärtig lotst er seine Frau und seine Mutter aus dem einstürzenden Haus in Petit-Goâve. Die Nacht verbringen sie mit Freunden unter freiem Himmel in der Kälte, die Angst vor Nachbeben ist groß. Am nächsten Morgen schlägt sich Joseph durch das Chaos, es gelingt ihm ein Zelt aufzutreiben. Für das Paar beginnt ein Leben ohne Privatsphäre. Doch schon nach zwei Monaten finden sie eine Bleibe in einem unzerstörten Haus.

„Zwei lange Jahre“


Akteure ihrer eigenen Entwicklung? Der haitianische Ingenieur Joseph Edner, links, und der haitianische Bauer Merilien Hyacinthe.

Ein gutes Ende, letztlich? „Nun, meine Frau war traumatisiert nach dem Beben“, sagt der Ingenieur, „zwei lange Jahre.“ Die beiden konzentrieren sich damals darauf, anderen zu helfen. „Uns war klar, dass wir so eine Chance haben, nicht verrückt zu werden, und unsere Angst zu überwinden.“ Im August 2010 bewirbt sich Joseph bei der Welthungerhilfe, einen Monat später fängt er als stellvertretender Projektleiter an. Fortan gehört er zu den Cadre, jenen haitianischen Mitarbeitern, die für Führungsaufgaben geschult werden, im Juni 2014 wird er Projektleiter. Seine Tochter ist da schon zwei Jahre alt.

Joseph Edner mag nicht über die anderen NROs reden, dann schon lieber über die Philosophie der Welthungerhilfe. Das Wichtigste sei: „Wir Haitianer müssen Akteure unserer eigenen Entwicklung sein dürfen. Deshalb beziehen wir lokale und staatliche Autoritäten ein, und bilden haitianische Mitarbeiter fort. Und doch haben wir von Anfang an darauf hingearbeitet, uns überflüssig zu machen.“

„Natürlich haben wir Fehler gemacht“

Øle Schmidt ist im Auftrag der Welthungerhilfe
als Journalist nach Haiti gereist

„Natürlich haben wir Fehler gemacht“, räumt Joseph ein, „wie sollte es auch anders sein?“ Die Waschgelegenheiten etwa seien zu weit weg von den neuen Toiletten, es sei zu einfach, das Händewaschen zu vergessen. Ein Problem in einem Land, in dem Hygiene von vielen noch gelernt wird. „Und wir werden künftig die Bewohner noch mehr zur Selbsthilfe anleiten, denn nicht alle halten ihre Häuser auch instant.“

Das gerne bemühte Bild vom haitianischen Opfer und dem ausländischen Helfer, es bleibt ein Klischee, zumindest hier in Petit-Goâve. Denn auch wenn die Welthungerhilfe in Deutschland sitzt, so hilft hier ein Haitianer dem anderen, und beide verbindet ihre Trauer und der Schmerz nach einer Katastrophe biblischen Ausmaßes.

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