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Bruder Sturm
Fray Tomás riskiert viel als Leiter einer Migrantenherberge in Mexiko


Fray Tomás riskiert viel als Leiter der Migrantenherberge „Die 72“ im Süden Mexikos.

Text Kathrin ZeiskeØle Schmidt
Bilder Øle Schmidt

Die einen sagen, Fray Tomás ist ein mutiger Mann. Andere finden, er ist schlicht lebensmüde. Der Franziskaner leitet die Migrantenherberge „Die 72“, und in Mexiko haben nicht nur Migranten auf ihrem Weg ins gelobte Land USA den Tod im Gepäck. Bedroht werden auch diejenigen, die den Männern, Frauen und Kindern helfen, die vor Gewalt und Armut aus ihrer lateinamerikanischen Heimat fliehen.

Einer hatte es überlebt. Einer von dreiundsiebzig. Als der Kugelhagel auf der abgelegenen Ranch vorbei war, stellte sich der junge Ecuadorianer tot. Tage später schleppte er sich schwer verletzt zu einer Station des mexikanischen Militärs. Trotz Unterstützung der Luftwaffe konnten die Soldaten das Gelände erst nach einem mehrstündigen Feuergefecht einnehmen. Das war vor vier Jahren.

Die Migranten waren ohne Papiere auf dem Weg in die USA, als Mitglieder des Kartells Los Zetas sie entführten. Die Mittel- und Südamerikaner weigerten sich, Wegzoll für das Passieren des Zeta-Territoriums zu zahlen. Deshalb wurden sie umgebracht.

„Natürlich habe ich Angst“

Seitdem trägt die Migrantenherberge im südmexikanischen Tenosique den Namen „Die 72“. Und ihr Leiter, Fray Tomás, hat mit seinen inneren Dämonen zu tun. „Natürlich habe ich Angst, wenn mich eine Drohung erreicht“, sagt der Vierzigjährige, „dann kann ich nicht einschlafen, und lausche angespannt jedem Geräusch auf dem Dach. Angst zu haben ist natürlich, aber ich glaube, dass die Kraft etwas Neues aufzubauen, stärker ist.“

Im vergangenen Jahr zwangen eben jene Zetas zwei Migranten Fray Tomás eine Botschaft zu überbringen: „Sagt dem Pater, dass wir seinen Kopf wollen.“ Die Drohungen gegen ihn und sein Team werden mündlich ausgesprochen, sie kommen per Telefon und E-Mail. „Absender sind die Kartelle, aber auch das Militär und die Polizei“, sagt Fray Tomás. Sein engster Mitarbeiter tauchte für einige Monate in den USA unter, weil er um sein Leben fürchtete.

Fray Tomás ist im Dauereinsatz. Er ist überall auf dem Gelände der Migrantenherberge zu finden, die vielleicht hundert mal hundert Meter misst. Wenn er nicht gerade Lebensmittel einkauft, erklärt er den Arbeitern, wie er sich den künftigen Schlafsaal vorstellt. Den freiwilligen Helfern stellt er die strengen Regeln in der Herberge vor – „Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit und keine Drogen!“ Vor der Essensausgabe fordert er die etwa 300 Migranten auf, sich besser zu vernetzen auf ihrem langen Weg in die USA: „Spart euch das Geld für die Schlepper und investiert es lieber in ein Hotelzimmer mit Frühstück.“ Zwischendurch beantwortet er Fragen der zahlreichen Journalisten, wenn auch einsilbig.

„Die Herberge ist ein Zufluchtsort“


Wird er sein Ziel erreichen, lebendig?

Eine Matratze auf dem Steinboden, dreimal am Tag Reis mit Bohnen, medizinische Grundversorgung, und ein wenig Beistand. Das Angebot in Tenosique ist einfach – und ein Segen für die Migranten. Denn sie sind seit vielen Tagen unterwegs, ohne Schutz und Bleibe, sie haben Grenzen ohne Papiere passiert, immer auf der Hut vor Polizisten und Kartellmitgliedern. Hier in der Herberge sind sie Menschen, keine Illegalen oder Kriminellen. „Die Herberge ist ein Zufluchtsort“, sagt Fray Tomás in seiner kurzen Pause, „und es ist ein Ort ohne Grenzen, ein autonomes Gebiet inmitten des mexikanischen Territoriums.“

Dass Nächstenliebe nur innerhalb der politischen Sphäre wirken kann, genau diese Praxis macht Fray Tomás so prominent im eingeschüchterten Mexiko dieser Tage. Und genau deshalb lebt er so gefährlich, und riskiert jeden Tag aufs Neue sein Leben.

Seine zornigen Reden haben ihm den Namen „Bruder Sturm“ eingebracht. Ein treffender Name? Fray Tomás überlegt nicht lange. „Ich will für niemand ein Sturm sein. Doch wenn die Menschenrechte gebrochen werden, wenn getötet wird, dann dürfen wir nicht schweigen. Ich erhebe meine Stimme gegen die todbringende Migrationspolitik der mexikanischen und US-amerikanischen Regierung. Sie verantworten immer mehr Repression und Abschottung, anstatt für den dringend benötigten Schutz der Migranten auf ihrem Weg in den Norden zu sorgen.“

Fray Tomás sieht ein bisschen aus der Zeit gefallen aus, wie er so dasteht. Sein Körper steckt in einer zu großen braunen Kutte der Franziskaner, die von einem weißen Strick über dem Bauch zusammengerafft wird, er trägt einfache Sandalen aus Leder. Doch der Sturm, den seine Worte entfachen, der ist höchst aktuell. „Ihr Migranten geht den wahren Kreuzweg“, sagt Fray Tomás zornig. „Ihr flieht vor der Gewalt, weil ihr zur Todesstrafe im eigenen Land verdammt seid. Eure Regierungen haben euch verraten, auch weil sie gut von euren Geldsendungen aus den USA leben.“ Ist das noch ein - politischer - Gottesdienst oder schon ein - christlicher - Aufruf zum Ungehorsam? Es sind so viele Menschen zu dem ökumenischen Gottesdienst gekommen, dass nicht alle hineinpassen in die Kirche, die nachts zum Schlafsaal wird.

Geboren wird Tomás González 1973 in Mexiko. Als er auf der Oberschule Franziskaner kennenlernt, verändert das sein Leben. Der Achtzehnjährige ist fasziniert von dem asketischen Leben, und ihrem Einsatz für die am Rand der Gesellschaft. Aus Tomás González wird Fray Tomás, ein Bruder des Franziskaner-Ordens. Er arbeitet in verschiedenen Städten, bis er im Jahr 2010 dann die Leitung einer Gemeinde hier in Tenosique übernimmt.


Die malerische Kulisse trügt: Die Reise der Migranten durch Mexiko ist eine auf Leben oder Tod.

Fray Tomás hat ein Verständnis von religiöser Arbeit, das mit der frommen Innerlichkeit vieler Christen in Europa kollidiert, das zeigt sich auch, wenn er die staatlichen Autoritäten kritisiert. Vor zwei Jahren kettete er sich an die Absperrgitter der Migrationspolizei, um gegen deren Einsätze auf den Gleisen zu protestieren. Aus Angst vor Abschiebung in ihre Heimatländer springen immer wieder erschrockene Migranten vom Dach des fahrenden Zuges – und verlieren Arme und Beine, wenn sie unter die Räder geraten.

Straflosigkeit und Korruption

Jedes Jahr „verschwinden“ tausende Migranten auf ihrem Weg in den Norden, Fray Tomás ist sich sicher: „Wenn es dem organisierten Verbrechen gelingt, 20.000 Migranten pro Jahr zu entführen, dann nur mit dem Einverständnis der Autoritäten. Die mexikanischen Behörden sind dominiert von Straflosigkeit und Korruption. Sie unternehmen nichts gegen diese verbrecherische Praxis, sondern scheinen sogar in die Entführungen verstrickt zu sein.“

Gilberto-Bosques-Menschenrechtspreis

Øle Schmidt ist im Auftrag der Welthungerhilfe
als Journalist nach Haiti gereist

Eine Aussage, die immer wieder in Mexiko zu hören ist, wenn auch nicht öffentlich. Umso wichtiger sind Auszeichnungen wie der Gilberto-Bosques-Menschenrechtspreis, den die Französische und die Deutsche Botschaft in Mexiko gemeinsam an Fray Tomás verliehen haben. Diese Art von Öffentlichkeit könnte ihm das Leben retten.

Die Debatte um immer mehr Kinder und Jugendliche, die sich auf den Weg in die USA machen, nennt Fray Tomás heuchlerisch. „Um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, schiebt die Regierung Obama die vielen jungen Migranten in ihre Heimatländer ab – mit der zynischen Bitte, dass die Eltern ihre Kinder nicht mehr auf diese mörderische Reise schicken sollen? Wie wäre es, wenn die USA die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Mittelamerikas unterstützen würde, anstatt noch mehr Grenzzäune und Grenzsoldaten zu bezahlen?“

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