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Vorwärts, zurück in die Gegenwart


»Bevor wir die Stadt wieder aufbauen konnten, mussten wir tausende Tonnen Schutt wegräumen«, erinnert sich Vea Dieudonne.

Text und Bild Øle Schmidt

Als vor fünf Jahren in Haiti die Erde bebt, verliert Vea Dieudonne seinen Sohn, sein Haus stürzt ein. Er schmeißt seinen gutbezahlten Job im Norden der Karibikinsel und fängt bei der Welthungerhilfe an. Der Berater will mithelfen, seine Heimatstadt Jacmel wieder aufzubauen. Doch das ist nur die halbe Geschichte.

Meine Reise in das Jetzt beginnt mit einem Paukenschlag aus dem Gestern. Kurz bevor ich in den Flieger nach Haiti steige, lese ich: Baby-Doc ist tot. Der jüngste aller haitianischen Diktatoren hatte bei seiner Flucht 1986 die Staatskasse mit bis zu 800 Millionen US-Dollar mitgenommen. Nun war er unbehelligt in seiner Heimat gestorben. Über Haitis Gegenwart liegen dunkle Schatten der Vergangenheit: Ein alltäglicher Fluch für die Menschen, eine dauerhafte Herausforderung für Organisationen wie der Welthungerhilfe. Dies ist die andere Hälfte der Geschichte.

»Daran musste ich mich erst mal gewöhnen«, sagt Dirk Guenther und lächelt herausfordernd. »Vea ist eigentlich immer mit seinem Handy beschäftigt.« Vea Dieudonne lässt sich nicht beirren, er murmelt etwas, und schreibt seine SMS zu Ende. Der Deutsche, 59, und der Haitianer, 50, sie kennen sich gut, nach mittlerweile fünf Jahren gemeinsamer Arbeit.

Auf Dirk Guenthers Visitenkarte steht Landesdirektor Haiti der Welthungerhilfe. Und Vea Dieudonne ist ihm ein wichtiger Vertrauter, hier beim Wiederaufbau in Jacmel. Jacmel ist eines der wenigen Touristenziele in Haiti. 40.000 Menschen leben in der Küstenstadt mit dem kolonialen Flair. Dann bebt die Erde im Januar 2010. »600 Häuser waren eingestürzt«, erinnert sich Vea Dieudonne, »mehr als 2.000 so stark beschädigt, dass wir sie abreißen mussten, 9.000 Menschen lebten plötzlich in Zelten.« Seine Gesichtszüge verraten, dass die Erinnerung schmerzt. Jacmel ist seine Heimat.

Wir stehen in der Werkstatt von Esnol St. Ilnes. Eigentlich ist es ja der Hof hinter dem Haus, das er mit seinen drei Schwestern bewohnt, doch hier repariert der 43-Jährige in einem Meer von Ersatzteilen und Werkzeugen defekte Klimaanlagen. Vea Dieudonne telefoniert. Und beschwichtigt unseren übernächsten Gesprächspartner, wir sind spät dran. Auch Monsieur Esnol erinnert sich. An den Tag des Bebens, als er in der Hauptstadt arbeitet. An seine drei Schwestern, die wie er unverletzt bleiben. An das gemeinsame Haus, das einstürzt. »Wir wussten nicht, wo wir schlafen sollen«, sagt der Handwerker. Monsieur Esnol ist zurückhaltend, trotz hupender Busse und kläffender Hunde spricht er leise. Viele Stunden habe er nach dem Beben in den Büros von Nichtregierungsorganisationen verbracht, auf der Suche nach Hilfe. »Doch sie haben uns nicht einmal abgesagt«, erzählt er kopfschüttelnd. Dann spricht eine der Schwestern bei der Welthungerhilfe vor. Zwei Wochen später stehen plötzlich Bauarbeiter vor dem Haus. »Ich habe einige Freunde angerufen, und dann haben wir alle zusammen angefangen«, erzählt Monsieur Esnol freudig. Keine zwei Monate später bezieht er sein neues, altes Haus, mit neuem Dach und neuen Wänden – erdbebensicher. »Jetzt fühlen wir uns sicher«, sagt er »und ich kann endlich wieder in meiner Werkstatt arbeiten.«

Auf den Straßen von Jacmel tobt ein Kampf um die Deutungshoheit. Katholische Symbole konkurrieren mit evangelikalen, an jeder Ecke verspricht eine andere Kirche den Weg zur Erlösung. Plakate der Opposition sind überklebt mit dem Porträt des Präsidenten. Aus dem Radio stürzen die Worte eines atemlosen Moderators. Eine Predigt? Eine Rede? »Brasilien gegen Argentinien«, sagt unser Fahrer. »Eins zu null.«

Richarson Francois ist eigentlich schon gar nicht mehr da, als wir sein Büro betreten, so eilig hat er es. »Um es kurz zu machen«, sagt der 36jährige Rektor, »ohne die Welthungerhilfe würde es die Schule La Familia heute wohl nicht mehr geben.« Vea Dieudonne erfährt damals, dass Monsieur Richarson die Privatschule schließen will, weil er nicht weiß, wie er den Wiederaufbau bezahlen soll. »Ich habe ihm einen Deal vorgeschlagen«, sagt Vea Dieudonne, »wir räumen die Trümmer weg, und er findet Spender, damit der Unterricht wieder beginnen kann. Es hat geklappt.« Monsieur Richarson nickt. »Es ist ein Geschenk für die 500 Schüler«, ergänzt er. Haiti sei das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, und Bildung könne das ändern. Und wenn der Staat zu schwach sei, um genügend Schulen zu bauen, kann es nur privat organisiert werden. Jetzt müsse er aber wirklich, sagt Monsieur Richarson entschuldigend. Das Handy von Vea Dieudonne klingelt zum Aufbruch.

Vea Dieudonne ist im Norden der Karibikinsel, als die Erde rund um die Hauptstadt Port-au-Prince bebt. Er versucht, seine Familie in Jacmel zu erreichen, doch die Leitungen sind tot. Dann irgendwann die Gewissheit: Sein Sohn ist ums Leben gekommen, sein Haus ist eingestürzt. Vea Dieudonne reist nach Jacmel und sieht die Zerstörung in seiner Heimatstadt. Einige Tage später trifft er den damaligen Landesdirektor der Welthungerhilfe und bietet ihm seine Dienste an. Der zögert, weil er weiß, dass Vea Dieudonne als Berater sehr viel Geld verdient. »Ich denke nicht, dass wir uns dein Gehalt leisten können«, antwortet er. Vea Dieudonne schaut ihn an und sagt: »Es geht jetzt nicht um Geld, wir müssen Jacmel wieder aufbauen. Ich bin mit jeder Summe einverstanden.«

Es sind viele Steine, die die Welthungerhilfe nach dem Beben in Jacmel ins Rollen bringt. »Bevor wir die Stadt wieder aufbauen konnten, mussten wir tausende Tonnen Schutt wegräumen«, erklärt Vea Dieudonne. Er stürzt sich in die Arbeit, damals, betäubt seinen Schmerz. Vea Dieudonne organisiert ein Cash-for-Work-Programm, eine Art Konjunkturspritze mit emotionaler Nebenwirkung. Die Haitianer übernehmen die Aufräumarbeiten. Für einen Lohn und die Gewissheit, sich selbst helfen zu können, nicht auf Almosen angewiesen zu sein. Das Team von Vea Dieudonne sucht die 1.000 Helfer aus den ärmsten Familien aus. Es stellt zusätzlich 50 Maurer ein, und 60 Frauen, die für die Verpflegung der Arbeiter sorgen. Sie alle kaufen auf Märkten in Jacmel ein und kurbeln so die lokale Wirtschaft an.

Haitis Geschichte liest sich wie eine kollektive Tragödie. Doch das Erdbeben vor fünf Jahren ist nicht etwa schicksalhafter Tiefpunkt eines gebeutelten Landes, es ist sichtbare Nachwirkung von Völkermord und Versklavung eines geknechteten Landes. Armut, fehlende Infrastruktur und ein schwacher Staat haben Haiti so verletzlich für das Erdbeben gemacht, das mehr als 300.000 Haitianer mit ihrem Leben bezahlen. Bei einem vergleichbaren Beben wenige Wochen später sterben im deutlich besser entwickelten Chile 521 Menschen. Haitis Gegenwart ächzt unter der Last der kolonialen Vergangenheit. Mit ihr muss sich beschäftigen, wer das Land verstehen will. Vorwärts also, zurück in die Gegenwart!

Unter der Flagge der spanischen Krone erobert Christoph Columbus 1492 die karibische Insel. Nach nur einem Jahr sind die eine Million Ureinwohner ausgerottet. 1804 ruft der Rebellenführer Jean-Jacques Dessalines die freie Republik Haiti aus. Doch die Freiheit von den französischen Besatzern, die inzwischen die Spanier verdrängt hatten, ist teuer erkauft. Die junge Republik ertrinkt fast am Blut der vielen Toten, die Wirtschaft liegt am Boden. 1825 unterzeichnet die haitianische Regierung unter großem militärischen und wirtschaftlichen Druck einen Vertrag mit Frankreich über Reparations-zahlungen. Doch die umgerechnet rund zweiundzwanzig Milliarden US-Dollar sind nicht als Entschädigung für das Leid der Haitianer gedacht, sie sollen den »Verlust« der französischen Plantagenbesitzer ausgleichen. 1915 besetzen US-Truppen Haiti für neunzehn Jahre. Die Amerikaner zwingen die Bauern zur Zwangsarbeit und übernehmen die Kontrolle von Unternehmen. 1947 überweist Haiti die letzten Rate an Frankreich. Nach mehr als hundert Jahren »Reparationszahlungen« sind der Staat und seine Wirtschaft gelähmt, der Grundstein für Armut und Korruption ist gelegt.

Auch hinter Dirk Guenthers Arbeit in Haiti steht eine persönliche Geschichte. In der Nacht auf den 13. Januar 2010 wacht er in Deutschland plötzlich auf – während in Haiti die Erde bebt. Am nächsten Morgen erfährt Dirk Guenther, dass einige seiner Freunde und Kollegen das Erdbeben nicht überlebt haben. Er bietet der Welthungerhilfe seinen Einsatz in Haiti an. Vierzehn Tage später landet der Deutsche auf dem Flughafen von Port-au-Prince.

Wieder klingelt ein Handy. Vea Dieudonne erhält einen Anruf vom Sicherheitschef der Welthungerhilfe. Unsere Rückkehr an diesem Abend in die Hauptstadt ist verschoben, wegen militanter Demonstrationen. Im Morgengrauen dann brechen wir auf, und fahren durch eine verletzliche und erwachende Stadt. »Jacmel sieht fast schon wieder so aus wie vor dem Beben«, sagt Vea Dieudonne nicht ohne Stolz, »aber natürlich machen wir weiter.« Doch wie geht es mit ihm selbst weiter, wie geht es ihm? Diese Fragen traue ich mich nicht zu stellen. Vea Dieudonne schaut durch das Fenster des Geländewagens. Er betrachtet seine heilende Heimatstadt. Und schweigt.

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