Der zerstörte Präsidentenpalast in der Hauptstadt
Eine Fotoreportage von Øle Schmidt
Am 12. Januar 2010 bebt auf der Karibikinsel Haiti die Erde. Es ist eine Katastrophe biblischen Ausmaßes: 316.000 Menschen verlieren ihr Leben; mehr als 300.000 werden verletzt; 1,85 Millionen sind plötzlich ohne Obdach. Jeder dritte Haitianer ist von dem Erdbeben betroffen.
Auch das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen stürzt ein
Es ist das schwerste Erdbeben in der Geschichte Nord- und Südamerika. Doch das Beben vor fünf Jahren ist nicht etwa schicksalhafter Tiefpunkt eines gebeutelten Landes, es ist sichtbare Nachwirkung von Völkermord und Versklavung eines geknechteten Landes. Armut, fehlende Infrastruktur und ein schwacher Staat haben Haiti so verletzlich für das Erdbeben gemacht.
Die Kathedrale von Port-au-Prince
Während 316. 000 Haitianer das Erdbeben mit ihrem Leben bezahlen, sterben bei einem vergleichbaren Beben wenige Wochen später im deutlich besser entwickelten Chile 521 Menschen. Haitis Gegenwart ächzt unter der Last seiner kolonialen Vergangenheit. Mit ihr muss sich beschäftigen, wer das Land verstehen will.
Physiotherapie nach der Amputation
Unter der Flagge der spanischen Krone erobert Christoph Kolumbus 1492 die karibische Insel. Nach nur einem Jahr sind die eine Million Ureinwohner ausgerottet. Sie sind Krankheiten, Massakern und der Zwangsarbeit auf den Plantagen zum Opfer gefallen.
Das Röntgenbild zeigt den Bruch im Knochen
1804 ruft der Rebellenführer Jean-Jacques Dessalines die freie Republik Haiti aus. Doch die Freiheit von den französischen Besatzern, die inzwischen die Spanier verdrängt haben, ist teuer erkauft. Die junge Republik ertrinkt fast am Blut der vielen Toten, die Wirtschaft liegt am Boden.
Der gebrochene Arm wird unter Narkose gerichtet
1825 unterzeichnet die haitianische Regierung unter großem militärischen und wirtschaftlichen Druck einen Vertrag mit Frankreich über Reparationszahlungen. Doch die umgerechnet rund zweiundzwanzig Milliarden US-Dollar sind nicht als Entschädigung für das Leid der Haitianer gedacht, sie sollen den »Verlust« der französischen Plantagenbesitzer ausgleichen.
Eine der vielen Zeltstädte nach dem Beben
1915 besetzen US-Truppen Haiti. Die folgenden neunzehn Jahre sind traumatisch für viele Einwohner. Die Amerikaner zwingen Bauern zur Zwangsarbeit beim Straßenbau und übernehmen die Kontrolle in vielen Unternehmen. Mit ihrem rassistischen Hochmut demütigen sie die Schwarzen und Mulatten. Bezeichnend ist der Ausspruch von US-Außenminister Bryan bei der Vorbereitung der Invasion: »Ach Gottchen, denken Sie nur – Nigger, die Französisch sprechen.«
Die verwundete Hauptstadt Port-au-Prince
1947 überweist Haiti die letzte Rate an Frankreich. Nach mehr als hundert Jahren »Reparationszahlungen« an die früheren Kolonialherren sind der Staat und seine Wirtschaft gelähmt, der Grundstein für Armut und Korruption ist gelegt.
Aus Sicherheitsgründen aus dem Auto fotografiert
1957 beginnt die Terrorherschaft der Familie Duvalier, die erst 1986 endet. Der Präsidenten-Miliz Tontons Macoutes fallen etwa 30.000 Oppositionelle zum Opfer. Gestützt werden »Papa Doc« und »Baby Doc« politisch und finanziell von den USA, die Haiti als antikommunistisches Bollwerk zum benachbarten Kuba aufbauen.
Improvisierter Markt an der Hauptstraße
Im Gegenzug öffnen die Dikatoren die Insel für Kapital und Agrarprodukte aus den USA. Der Exodus der lokalen bäuerlichen Landwirtschaft läßt Zehntausende in die Metropole Port-au-Prince flüchten. Als »Baby Doc« mit Hilfe der CIA 1986 ins französische Exil flieht, hat er die Staatskasse mit geschätzen 300 bis 800 Millionen Dollar im Gepäck.
Ein Junge in einem Lager für Obdachlose
Auch aus Spanien und Frankreich kommen Beileidsbekundungen nach dem Erdbeben. Doch die Kolonialmächte, die Haiti ausgeplündert und seine Ureinwohner ausgelöscht haben, haben bis heute keine Entschädigungszahlungen geleistet, von einer Entschuldigung ganz zu schweigen. Der blutige Kolonialismus bleibt ein blinder Fleck in Europa.
Jesus hat den Einsturz der Kathedrale überlebt
Niedergang oder Auferstehung? Wohin führt der Weg für Haiti, fünf Jahre nach dem verheerenden Erdbeben?