Ausgabe 19, April 2018

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Lord Krishna und die Witwen
In der indischen Pilgerstadt Vrindavan pulsieren Glaube und Armut

Eine indischen Gottheit im Aufbau, in der Stadt der 5000 Tempel.

Text und Fotos Øle Schmidt

Umar hat ein runzeliges Gesicht mit großen Augen, die mittlerweile wieder strahlen. Die Achtzigjährige lebt zusammen mit anderen Witwen im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh in einem Ashram, eine Art spirituelles Altersheim. „Ich bin viele Tage mit dem Zug gefahren, ich war verwirrt und alleine“, erinnert sich Uma, „in Vrindavan bin ich ausgestiegen und herumgeirrt. Die Männer von der Eisenbahnpolizei haben mich dann hier in den Ashram gebracht. Das war vor zwei Monaten.“

Geschirr klappert, der Duft von Tee und Räucherstäbchen liegt in der Luft. Die zumeist betagten Damen sind ausgelassen und scherzen. In ihrer Heimatstadt Kalkutta hat Uma neben ihren erwachsenen Söhnen gelebt. Um Geld zu sparen, haben diese ihren Stromanschluss angezapft. „Als ich sie eines Tages gefragt habe, warum meine Stromrechnung so hoch ist, sind meine Söhne wütend geworden, und haben mich beschimpft und geschlagen. Meine eigenen Kinder haben mich geschlagen.“ Uma kauft sich ein Zugticket, und verläßt zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Geburtsstadt.

Schwierige Situation für Witwen

Als Umars Mann starb, war plötzlich alles anders in der Familie. Ihre Söhne behandelten sie schlecht und warfen sie aus der gemeinsamen Wohnung. So wie Umar geht es vielen Witwen in Indien. Mit dem Tod ihres Mannes verlieren sie den Schutz des Familienoberhauptes, Schutz vor ihren eigenen Kindern und den Schwiegereltern. Indische Frauen ziehen nach der Hochzeit traditionell zu ihrem Mann, der meist noch unter dem Dach seiner Eltern lebt.

Der Ashram der indischen Nichtregierungsorganisation Sulabh International liegt abseits der lärmenden Hauptstraße, seit nunmehr zehn Jahren bietet er 50 Witwen Obdach. Jeweils drei von ihnen teilen sich ein spartanisches Zimmer, auf dem Boden steht ein kleiner Gaskocher, auf ihm bereiten die Witwen ihre Mahlzeiten zu. Es ist einfach hier, aber ein Zuhause, mit Strom sogar und Wasser, und vor allem: mit Familienanschluss. Weil der indische Staat die Witwen alleine läßt, zahlt Sulabh ihnen Essengeld und eine bescheidene Rente. Einmal die Woche schaut eine Ärztin nach ihnen.

Die Zimmer im Ashram sind spärlich eingerichtet und bieten drei Frauen Platz.

Bitte um Erlösung

Wie jeden Mittag kommen die Frauen in dem großen Raum des Hauses mit Schellen, Trommeln und Glocken zusammen; um zu singen für Krishna, um Erlösung von ihrem weltlichen Leid zu erbitten.

Laut und stickig, arm und beseelt ist das Leben in Vrindavan, dem Pilgerort von Lord Krishna. Die Stadt der 5000 Tempel ist die letzte irdische Station von Witwen aus ganz Indien. Viele von ihnen sind nach dem Tode ihres Ehemannes von der Familie verstoßen worden, weil Witwen nach der Vorstellung vieler Inder Unglück bringen. Sie leben in großer Armut, ohne Obdach, haben Gewalt und Demütigung erfahren; einige sind gerade so mit dem Leben davongekommen. Meist endet an dieser Stelle die Erzählung in westlichen Medien. Dass sie weitergeht, wissen diejenigen, die in die leuchtenden Augen der Witwen geschaut haben beim ekstatischen Singen für Krishna, ihren spirituellen Wegbegleiter in Vrindavan.

Als ich das Mikrofon ausschalte, erzählt mir Umar, dass sie nach dem Tode ihres Mannes von ihren Schwiegereltern geschlagen und mißhandelt worden ist. Einige Jahre ging das so, bis die Schwiegereltern starben. „Krishna ist unser Leben“, sagt Umar mit fester Stimme; sagt die Witwe, die sich in Vrindavan auf ihren Tod vorbereitet.

Vor dem großen Krishna-Tempel sitzen Witwen in weißen Saris auf dem staubigen Boden. Den Kopf nach unten gebeugt, fragen sie stumm nach Almosen. Den prunkvollen Tempel mit den goldenen Krishna-Statuen betreten sie nicht. Es steht ihnen nicht frei, in der Öffentlichkeit zu tanzen und zu singen.

Singen und Tanzen ist den Witwen in der Öffentlichkeit untersagt.

Lord Krishna

Im Herzen des Tempels wiegen sich die Körper zu der live gespielten Musik. Der festlich geschmückte Raum ist gefüllt mit Krishna–Anhängern aus aller Welt. Sie feiern einen Moment der Selbstvergessenheit, der Hingabe an etwas Größeres. „Wenn du stirbst, musst du an Krishna denken, dann kannst du in seine Arme zurückkehren“, sagt der Mann neben mir. „Wenn du aber an jemand anderen denkst, dann wirst du so werden wie der andere. Wenn du von Kindheit an immerzu an Krishna denkst, dann wirst du ihn im Moment deines Todes nicht vergessen.“

Krishna Bhakti Das ist klein und drahtig, und sich seiner Sache ziemlich sicher. Sein Kopf ist rasiert, um die Lenden hat er sich ein Küchentuch gebunden, so wie viele Inder. Die Familie des Fünfzigjährigen folgt der Krishna-Linie seit Generationen, deshalb haben sie ihm diesen Namen gegeben: Hingebungsvoller Diener Krishnas.

Lord Krishna gehört zu den populärsten Göttern auf dem Subkontinent, für seine Anhänger ist er die Menschwerdung des Höchsten. Er soll in der Region Vrindavan geboren und aufgewachsen sein. Dorthin ziehen sich seit mehr als 500 Jahren Krishna-Gläubige Witwen aus ganz Indien zurück. Von ihren Familien verstoßen, kommen sie zu dem heiligen Platz, um sich mit Krishna zu vermählen. So hoffen sie auf Trost an ihrem Lebensabend, und auf Erlösung von dem Unglück, das Witwen mit sich bringen sollen.

Siebenunddreißig Jahre hat Krishna Bhakti Das in diesem großen Krishna-Tempel gelebt. Mit sieben hatten seine Eltern ihn im 1.300 Kilometer entfernten Kalkutta in den Zug gesetzt, damit er hier die Tempelschule besuchen konnte. Kalkutta ist die Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen, aus dem die meisten der Witwen stammen, die nun in Vrindavan leben.

Der Tempel als Marktplatz

„Wenn du aufhören willst zu leiden“, sagt Krishna Bhakti Das herausfordernd, „wenn du es wirklich willst, dann denk’ an Krishna, er wird dich zurückbringen zu seinem Platz, dem spirituellen Planeten weit entfernt dort oben. Von dort wirst du niemals zurück müssen, um hier unten wieder zu leiden.“

Zumindest die Betreiber des großen Krishna-Tempels können dem weltlichen Leben augenscheinlich etwas abgewinnen. Aufregend schöne Frauen werben bei den hunderten Besuchern großzügige Spenden ein. Devotionalien und Bücher werden verkauft, ganze Eigentumswohnungen wechseln den Besitzer.

Krishna ist ein fordernder Gott, er verlangt von seinen Anhängern eine symbiotische Beziehung. Dafür verspricht er ihnen nicht weniger als Erlösung und einen Platz im Paradies. Letzter Halt Vrindavan – diese pulsierende kleine, verschlafene Stadt, deren Name in Indien wirklich jeder kennt, ist eine Transit-Station für Witwen, die den Planeten Erde verlassen wollen, um für immer zum Planeten Goloka zu reisen. Jenem mythischen Ort im Weltall, an dem Krishna und seine Geliebte Radhe der Legende nach leben.

„Lächle, du bist im Hauptquartier von Sulabh International“, steht auf einer weißgetünchten Mauer in der indischen Hauptstadt New Delhi. Rasen und Blumen sind penibel geschnitten. Doktor Bindeshwar Pathak sitzt eingerahmt von hunderten von Büchern in seinem Büro. Ein hochtouriger Ventilator auf dem großen Schreibtisch droht seine Gedanken zu verwehen, die er auf dutzenden Zetteln festgehalten hat. Der 73-Jährige ist Gründer von Sulabh International, und eine der einflußreichsten Stimmen der indischen Zivilgesellschaft.

Männerdominierte Gesellschaft

Kulturell? Sozial? Oder doch eher religiös? Wie läßt sich die Ächtung von Witwen in Indien erklären? „Letztlich ist es eine Kombination“, sagt Bindeshwar Pathak. „Psychologisch gesehen, ist das Problem unsere männerdominierte Gesellschaft. Sie will nicht, dass die Witwen nach dem Tod ihrer Ehemänner wieder heiraten, dass sie wieder Sex haben. Sie will, dass die Witwen ihre Reinheit wahren.«

An den Wänden hängen Auszeichnungen aus aller Welt, auf einem Foto schüttelt der Hindu Pathak die Hand des Katholiken Johannes Paul II. Warum eigentlich müssen sich in Indien Frauen nach dem Tod ihres Ehemannes den Kopf rasieren?, fragt der Angehörige der höchsten Brahmanen-Kaste, um sich dann selbst zu antworten. „Einzig deshalb, damit sich kein Mann von ihnen angezogen fühlt. Warum müssen sie weiße Kleidung tragen, dürfen nicht singen, nicht tanzen? Weil von ihnen erwartet wird, dass sie mit ihrem Verhalten nicht einen Mann anziehen.“

Der Journalist Øle Schmidt lebt und arbeitet in Lateinamerika und Deutschland.

Soziale Revolution

Im traditionellen Indien bemisst sich der Wert einer Frau an ihrem Ehemann. Stirbt dieser, erlischt ihr Wert. Was nicht erlischt, ist die Forderung an die Witwe, keine neue Verbindung einzugehen: Die Loyalität zu ihrem verstorbenen Ehemann also über den Tod hinaus zu garantieren. Bindeshwar Pathak kritisiert, dass die Witwen aus der Gesellschaft verbannt und unsichtbar gemacht werden. Seine Hoffnung legt er in eine „soziale Revolution“. Er will das Verhalten der Inder gegenüber den Witwen ändern, ihre Gedanken und ihre Einstellungen. „Es wird die Zeit kommen“, sagt Bindeshwar Pathak, „dass wir die Ehre und das Prestige der Witwen in diesem Land wiederherstellen. Das wünsche ich mir sehr.“

Ein Audiofeature von Øle Schmidt finden Sie hier.

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