Ausgabe 16, Dezember 2015
Dr. Ulrike Schrader, Literaturwissenschaftlerin, leitet die Begegnungsstätte Alte Synagoge, die an die Geschichte der Juden in Wuppertal erinnert.

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Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!
Was die französische Parole mit uns zu tun hat.

Text Dr. Ulrike Schrader

Wenn die jüdischen Familien in Wuppertal und in der ganzen Welt demnächst ihr Chanukka-Fest feiern, erinnern sie sich damit an einen Kulturkampf, der im Jahr 164 vor Christus in einem sicher nicht unblutigen Aufstand gipfelte und die Fremdherrschaft der Seleukiden in Judäa beendete. Am Ende reinigten die siegreichen Makkabäer den Jerusalemer Tempel von Götzenbildern und weihten ihn wieder neu.

Heute leben wir in anderen Zeiten als Makkabäer und Seleukiden, aber die Frage, wie Menschen mit ganz unterschiedlichen Traditionen, Religionen, mit Feindbildern und Wertvorstellungen friedvoll in einem Gemeinwesen miteinander leben sollen, stellt sich in unserer so schnell sich verändernden Gesellschaft in großer Dringlichkeit.

Die vielen Flüchtlinge, die nun Schutz bei uns in Deutschland suchen und hoffentlich auch finden, werfen wieder Fragen auf, von denen wir dachten, dass sie schon längst beantwortet seien. Was ist unsere „Leitkultur“, was bedeutet „christlich-jüdisches Abendland“? Nicht wenige befürchten einen„Rechtsruck“ der Wählerinnen und Wähler, andere haben die Sorge, dass die Bevölkerung große wirtschaftliche, soziale, kulturelle Opfer erbringen müssen wird. Treten wir wieder in einen „Kulturkampf“ ein?

Heute in Deutschland lebende jüdische Familien haben selbst eine Migrationsgeschichte hinter sich, sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland eingewandert, und wissen daher sehr genau, was es bedeutet, die Heimat, das vertraute Umfeld zu verlassen und wieder völlig von vorn anfangen zu müssen. Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in Deutschland begrüßen daher die Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik und loben die Willkommenskultur der Deutschen.

Auch jüdische Stimmen in den USA und in Israel äußern sich positiv überrascht von der praktizierten Flüchtlingspolitik in Deutschland und zollen dem Land, das sie oder ihre Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben hat, großen Respekt wegen seiner Aufnahmebereitschaft und Großzügigkeit.

Aber die hier lebenden Jüdinnen und Juden haben durchaus auch Sorgen und Bedenken: Die meisten der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und aus Afrika haben in ihren muslimischen Herkunftsländern schon als Kinder gelernt, Israel und die Juden zu hassen. Syrien und Iran erkennen den Staat Israel nicht an, und in vielen anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens dient allein die Existenz des Staates Israel als Begründung für eine verächtliche und aggressive Judenfeindschaft.

In der Begegnungsstätte Alte Synagoge mit ihrem kleinen Museum zur jüdischen Geschichte im Bergischen sind viele muslimische Jugendliche zu Besuch – im Rahmen von Besichtigungen mit ihrer Klasse. Die meisten von ihnen sind in Deutschland geboren, oft auch schon ihre Eltern. Die Exkursion in die Begegnungsstätte ist oft der erste Kontakt zu Jüdischem überhaupt. Viele gestehen dann, dass ihnen Juden und alles Jüdische irgendwie nicht ganz geheuer sind. Andere aber sind neugierig, stellen viele Fragen und sind überrascht von den Ähnlichkeiten, die es zwischen ihrer und der jüdischen Religion gibt, zum Beispiel die Beschneidung oder die Speisegesetze. Manche wollen nicht verstehen, dass in der jüdischen Religion andere Werte wichtig sind als im Islam und zeigen Geringschätzung, wenn sie hören, dass Engel, Paradies und das Leben nach dem Tod im Judentum nicht die gleiche Bedeutung haben wie für sie. Viele der muslimischen Jugendlichen sind offen für neue Informationen und interessieren sich für die Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Wuppertal. Andere wieder möchten nur über den Nah-Ost-Konflikt reden, vergleichen die israelische Besatzungspolitik mit den deutschen Konzentrationslagern, äußern deutlich und zuweilen auch provokant ihre Ablehnung des Museums und seiner Inhalte.

Auch vor diesem Hintergrund ist das gedankliche Konzept der Ausstellung in der Begegnungsstätte Alte Synagoge von weit reichender Bedeutung: Es betont die Errungenschaften der Moderne, die für die Geschichte der Juden in Europa so eminent wichtig waren: Beginnend mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der französischen Revolution (1789) lässt sich der Emanzipationsprozess der bürgerlichen Gesellschaft nachvollziehen, deren Erben und Vertreter wir heute sind. „Leben, Freiheit, Streben nach Glück“ – so die amerikanischen Unabhängigkeitskämpfer, und „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – so die französischen Revolutionäre – das sind die Gedanken, die erst einmal gedacht werden mussten, um die Mündigkeit der modernen Gesellschaft voranzutreiben.

Es sind diese Werte, die letztlich in unsere modernen Verfassungen geflossen sind und die für alle, die hier leben, Gültigkeit haben müssen. Bassam Tibi, ein deutscher Politikwissenschaftler syrischer Herkunft, hat schon vor 15 Jahren gesagt: „Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.“

Der Schock der Attentate in Paris, auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ im Januar und die vom 13. November, hat in aller Schärfe und Brutalität vor Augen geführt, wie grenzenlos der Hass auf diese Werte ist und wie grenzenlos die Verachtung unserer Freiheit, die wir so lieben. Erst eine pluralistische Gesellschaft mit dem Bekenntnis zur modernen Verfassung, mit ihrer Toleranz und sogar Akzeptanz von Vielfalt und Abweichung ermöglicht und schützt das friedvolle Miteinander der verschiedenen Konfessionen, die versöhnliche Gleichzeitigkeit vom jüdischen Chanukka-Fest, das in diesem Jahr mit dem christlichen Sankt-Nikolaus-Tag zusammenfällt.

Jüdische Bürgerinnen und Bürger werden von vielen Politikern als moralische Instanz instrumentalisiert, und das ist sicherlich zu kurz gedacht. Aber sie sind in der Regel empfindliche Seismographen, die drohende Gefahren sensibel frühzeitig erkennen und benennen. Doch die Konsequenzen für die Bereiche der politischen Bildung, der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Kultur, das sind Aufgaben, die nur gemeinsam angepackt werden können.

Information

Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
Genügsamkeitstraße
42105 Wuppertal
www.alte-synagoge-wuppertal.de

Öffnungszeiten
Dienstag bis Freitag 14 bis 17 Uhr
Sonntag 14 bis 17 Uhr

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