Kommentar Sebastian A. Schulz
Noch vor ein paar Jahren saßen sie gemeinsam in einer Schulklasse – nun müssen Lehrer entsetzt feststellen, dass ehemalige Schüler in Syrien kämpfen und dort auch sterben. Wie konnte das geschehen? Wie entwickelt sich ein junger Mensch zum gewaltbereiten Gotteskrieger?
Die Gründe für eine Radikalisierung von Jugendlichen in Deutschland sind vielfältig. Mal ist es der Wille zur Rebellion gegen das Elternhaus oder die Gesellschaft, mal ist es eine treibende Gruppendynamik. In Deutschland schien es bisher einfach zu sein, sich eine Protestgesinnung zuzulegen. Bei den Stichworten Rechts- und Linksextremismus rollt der Deutsche mit den Augen. Wir alle kennen die Bilder von Krawallmachern, ob am 1. Mai oder bei Aufmärschen rechtsextremer Gruppen.
Dann kamen die Salafisten. Als hätten deutsche Medien nach einem neuen Schreckgespenst gesucht. Dabei sind der Salafismus und seine Dogmatik nicht neu. Auch die Gruppe von dschihadistischen Salafisten – die wohlgemerkt nur eine Strömung in dieser sehr konservativen Ausprägung des Islams ist – stellt kein neues Phänomen dar. Welchen Grund also gibt es nun, Salafismus mit Links- oder Rechtsextremismus zu vergleichen?
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, der Salafismus sei eine rein religiöse Bewegung. Natürlich ist der religiöse Hintergrund seine treibende Kraft. Wenn sich ein Salafist auf die Lebensweise der altvorderen Generationen nach Mohammed (arab. Sallafiyya) beruft, dann ist das religiös. Doch wie so oft in der Geschichte ist auch diese religiöse Erzählung ein Mittel für den politischen Zweck: Stichwort Gottesstaat. Die Frage kann in diesem Fall jedoch nicht sein: wie verhindere ich den Salafismus? Diese oberflächliche Betrachtungsweise täuscht darüber hinweg, dass auch der Salafismus nicht mehr ist, als eine äußerst konservative Auslebung des Glaubens. Die Gefahr besteht vielmehr in der Radikalisierung dieses Gedankenguts, bis hin zur Gewaltbereitschaft.
Ebenso wie bei extremistischen Gruppen des rechten und linken Flügels, müssen wir uns deshalb auch beim Salafismus die Frage stellen: was bewegt den Einzelnen, sich zu radikalisieren?
Diese Suche führt unweigerlich zur Zielgruppe möglicher Rekruten, die oft nicht einmal volljährig sind. Die Methode dahinter ist klar erkennbar: ein junger Mensch mit wenig Lebenserfahrung, vielleicht mit persönlichen Problemen oder dem Gefühl fehlender Gruppenzugehörigkeit – der ist ein gefundenes Fressen für die Extremisten.
Doch wie radikalisiert sich ein Jugendlicher in einer muslimischen Familie? Der in Deutschland verwurzelte Jugendliche mag vielleicht zu einem linken oder rechten Spektrum tendieren. Junge Muslime vermutlich nicht. Es bedarf also keiner sonderlich großen Anstrengung, um zu erkennen, wo ihr Weg enden könnte. Im übrigen zeigt sich, dass auch Konvertiten, also Nichtmuslime, die zum Islam übergetreten sind, dabei keine Ausnahme sind. Salafismus ist als gesamtgesellschaftliches Problem zu betrachten, wenn eine Rekrutierung vor allem von eben jenem Übertritt abhängig ist. Salafisten haben keine schlechten Chancen, auch in moderaten islamischen Gruppen Nachwuchs zu rekrutieren. Dort finden sie junge Muslime vor, die dank der begrenzten deutschen Willkommenskultur Schwierigkeiten haben, eine stabile Identität zu entwickeln. Bin ich Deutscher? Bin ich Muslim? Dass es heutzutage möglich sein sollte, ein deutscher Muslim zu sein, ist für einige Deutsche anderen Glaubens immer noch nicht vorstellbar.
Wäre ein solcher deutscher Muslim überhaupt gefährdet, sich zu radikalisieren und eine lebensgefährliche Reise nach Syrien zu unternehmen, wenn er sich hier willkommen fühlen würde? Jede Art von Extremismus nutzt die Unzufriedenheit von Menschen für seine unmenschliche Ideologie. Dafür fangen sowohl religiöse als auch politische Extremisten Menschen dort auf, wo die Gesellschaft sie fallen gelassen hat. Unsere Gesellschaft. Es bleibt eine bittere Ironie, dass ein junger Mensch – oft ohne ausgeprägtes Wissen über Religion oder Politik – urplötzlich der Meinung ist, dass seine neu erworbene Ideologie Gewalt rechtfertigt. Dafür muss er oder sie nicht einmal besonders religiös oder politisch interessiert sein, meist reicht das neue Gefühl der Stärke, Teil einer Gruppe zu sein.
Natürlich sind extremer Salafismus, Rechts- und Linksextremismus gefährlich. Doch ein wirksames Gegengift der Zivilgesellschaft könnte sein, Extremisten nicht nur zu bekämpfen, sondern ihnen vor allem keine Menschen mehr in die Arme zu treiben.
Bis zuletzt sehen sich die Menschen in Köln, Solingen, Wuppertal und auch Dinslaken mit Salafisten konfrontiert. Erst nach und nach entsteht eine Präventionsarbeit, um Jugendliche vor dem Einfluss dieser radikalen Gruppe zu schützen. Seit diesem Jahr existiert in Wuppertal die Anlaufstelle „Wegweiser“, für jugendliche Muslime und ihre Familien. Dort arbeiten Theologen und Pädagogen daran, die Radikalisierung von jungen Muslimen zu erkennen und zu verhindern. Denn im Nachhinein, das sagen sowohl die Mitarbeiter von „Wegweiser“ als auch Islamwissenschaftler, ist ein radikalisierter, junger Mensch kaum noch zu erreichen.
Der Blick auf die aktuelle Flüchtlingssituation auch in Wuppertal lässt weitere Herausforderungen erkennen. Schon bevor Flüchtlinge aus dem syrischen Kriegsgebiet kamen, war unsere Gesellschaft überfordert, die Radikalisierung junger Menschen einzudämmen. Und nun stehen Salafisten vor Flüchtlingsunterkünften, in denen tausende junge Menschen mit unsicherer Zukunft ankommen. Wie zuletzt in Köln ist zu beobachten, dass die Hilflosigkeit von Flüchtlingen ein Ansatzpunkt von Salafisten sein kann. Ein paar Geschenke, Ausflüge und vor allem eine Kommunikation auf religiöser Basis wirken anfangs harmlos. Doch letztlich kann hier die Grundlage für eine potenzielle Hörerschaft gelegt werden. Natürlich hat vor allem der Terror des sogenannten Islamischen Staates die Menschen in die Flucht getrieben. Zurück zu reisen, um Krieg gegen sogenannte Ungläubige zu führen, mag für sie nicht allzu verlockend klingen. Allerdings kann eine Ideologie auch ohne Krieg Gewaltbereitschaft und Feindbilder erschaffen.
Es bleibt dabei: Es ist richtig, Extremismus grundsätzlich abzulehnen, unabhängig von seiner Ausprägung. Und es ist zu einfach. Denn das Entstehen von extremistischen Gedanken, Gefühlen und Handlungen – gerade bei jungen Menschen, die noch nicht gefestigt sein können – hat mehr mit uns zu tun, als wir uns eingestehen wollen. Einem Weltbild zu folgen, das seinen Nächsten zum Feind macht – das zeugt immer auch von einem Versagen der Gesellschaft. Von unserer Gesellschaft.