Ausgabe 16, Dezember 2015

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Wo bitte geht’s denn hier zum Hinterzimmer?

Kommentar Eduard Urssu

Wuppertals neuer Oberbürgermeister Andreas Mucke möchte mehr Bürgerbeteiligung bei politischer Entscheidungsfindung und kündigt eine Politik ohne Hinterzimmer an. Wie aber sieht die praktische Umsetzung einer solchen Idee aus?

„Wir können alle zusammen singen, aber nicht gemeinsam reden“, so lautet ein bewährter Pädagogen-Spruch, um etwas Ruhe ins Klassenzimmer zu bringen. Ein schönes Bild, das gut und gern auf kontroverse Bundestagssitzungen übertragbar ist. Aber was passiert, wenn sich die 631 Bundestagsabgeordneten nicht einig werden können, oder Entscheidungen zwischen Bundestag und Bundesrat feststecken? Dann wird ein Vermittlungsausschuss gebildet. Ein bewährtes Prinzip. Ein solcher Ausschuss bildet Arbeitsgruppen, die wiederum in informellen Gesprächsrunden Kompromisse aushandeln – im besten Fall. Solche Gespräche finden in den sogenannten Hinterzimmern statt. Lexikalisch betrachtet ein völlig harmloser Begriff: „Nach hinten hinaus liegendes Zimmer; ein separates hinteres Zimmer oder ein privates Nebenzimmer“. Dass der Eintrag „Hinterzimmer“ im Duden Universalwörterbuch direkt auf „Hinterziehung“ folgt, steht sicher in keinem Zusammenhang, oder? Das Gschmäckle dieses Begriffs wird erst bei der Übertragung der „back rooms“ (Hinterzimmer) aus dem Englischen deutlich. Hier symbolisieren Hinterzimmer die Orte geheimer Handlungen und Absprachen. Die Partei die LINKE hat 2010 gegen diese Praxis vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Nicht gegen die Praxis im Allgemeinen, sondern gegen die Gründung eines Vermittlungsausschusses, der im speziellen Fall prozentual die Fraktionsgröße im Bundestag in den kleinen Arbeitsgruppen abbildete - damals ohne Beteiligung der Linken. Nach Klageeinreichung wurden diese zwar eingeladen, der Kompromiss über die Höhe von Hartz-IV, um den damals gerungen wurde, kam allerdings erst in einer weiteren Arbeitsgruppe zustande, in einem anderen Hinterzimmer also. Es scheint mehrere dieser speziellen Zimmer im Haus zu geben. Ich stelle mir vor, wie lange dieser Kompromiss gebraucht hätte, wenn jeder Bürger mit „seiner Stimme“ dort vertreten gewesen wäre. Tut mir leid, aber auch meine Phantasie hat ihre Grenzen. Und überhaupt: Möchte ich wirklich zu jeder politischen Entscheidung befragt werden? Hierzu ein ganz entschiedenes „Nein“! Wofür bin ich denn sonntags zur Wahlurne gegangen, habe mein Kreuz gemacht und meinem Kandidaten bis zur Auszählung die Daumen gedrückt? Ich bin ein großer Freund der parlamentarischen Demokratie. Kein System ohne Schwächen, geschenkt. Wenn ich mich in der Welt umschaue, dann befinde ich mich schon im Paradies der Bürgerbeteiligung. Mit gerade so viel Aufwand, dass sie nicht meinen Alltag bestimmt, und ich meiner Arbeit nachgehen kann, Familie und Freizeit erlebe, etc. Ich habe meinem Vertreter in der Politik eine Stimme gegeben, mit meiner Stimme habe ich ihm ein Mandat erteilt. Jetzt soll diese Person, beziehungsweise Partei ihre Arbeit machen – mich so gut wie möglich zu vertreten. Nicht nur im großen Ganzen, auch im Detail. Das nennt sich meinem Verständnis nach: gelungene Arbeitsteilung. Sicher, ich gehe nicht mit jeder Entscheidung d’accord. Aber wenn ich der einzige bin, dem diese Entscheidung stinkt, dann muss ich mich dieser trotzdem beugen. Bin ich doch nicht alleine in diesem Land, und es gibt auch noch andere Wege der Mitbestimmung, etwa Bürgerbegehren, um nur einen zu nennen. Demokratie ist schließlich nicht die Macht der Wenigen. Hier geht es um das große Ganze! Da können noch so viele Verfechter der großen Bürgerbeteiligung auf das uralte Konzept der Polis verweisen, der attischen Demokratie. Meiner Meinung nach ist dieses Modell völlig inakzeptabel und nicht übertragbar. Nicht auf Bundesebene, und auch nicht auf die kommunale Ebene. Wuppertal ist da ein gutes Beispiel. Zumindest vor dem Hintergrund der Größenverhältnisse der attischen Demokratie. Wenn nun jeder wahlberechtigte Wuppertaler zu jeder Ratssitzung erscheinen wollen würde... Quatsch! Sagen wir jeder zweite... Nee! Jeder fünfte Wuppertaler kommt zur Ratssitzung, nur als Beispiel, welches auch recht gut zum Original passen würde. Dann findet diese Sitzung nicht im Barmer Rathaus, sondern im und vor dem Stadion am Zoo statt. Wenn nun jeder der anwesenden Bürger ein ausgeprägtes Redebedürfnis mitbringt, dann sollten zur Sitzung auf jeden Fall ein paar tausend Feldbetten und ähnlich viele Dixi-Klos bereitstehen. Jetzt höre ich schon etliche Verfechter der Bürgerbeteiligung mit den Füßen scharren, beziehungsweise mit der Maus rumklicken und raunen: „Bürgerbeteiligung kann doch auch online geschehen!“ Nicht im Ernst – ist darauf meine reflexartige Antwort. Wenn ich mir vorstelle, dass alle Wahlberechtigten sich vorab registrieren lassen und jede Menge Daten irgendwohin schicken müssen und sich dann noch vor jeder Abstimmung zweifelsfrei verifizieren müssen, selbst dann wäre solch eine Abstimmung immer noch nicht absolut sicher. Zumindest aber wäre das Projekt „Der gläserne Mensch“ dann abgeschlossen. Wir schaffen es ja nicht mal, in einer so hoch entwickelten Gesellschaft – ja, ich spreche von der hiesigen – einfache und unmissverständliche Nachrichten über WhatsApp, Twitter oder andere Kanäle zu verfassen. Trotz einer inflationären wie infantilen Verwendung von Emoticons. Dann möchte ich lieber nicht online über Stadtentwicklung, neue Verkehrsführung oder die Erhöhung der Parkgebühren diskutieren müssen. Ach, Sie wollen es per Klickentscheid „Ja oder Nein“? Spätestens seit meiner Schulzeit und der Zettelwirtschaft von „Willst Du mit mir gehen? Ja-Nein-Vielleicht?“ weiß ich, dass es selten eine rein schwarz-weiße Entscheidung gibt. Und hinter einem „Vielleicht“ kann sich so manches verbergen. Bevor es nun also zu einer Entscheidungs-Klick-Runde kommen kann, muss erst eine präzise Frage formuliert werden. Und wer entscheidet nun darüber? Liebe Leute, lassen wir die Kirche doch im Dorf und die Ratssitzung in Barmen. Irgendwie und irgendwann muss doch noch gearbeitet werden. Für Politiker gehört dazu sicherlich auch das eine oder andere Gespräch im Hinterzimmer. Solange im Sinne der Mehrheit diskutiert und entschieden wird, ist dem Prinzip einer parlamentarischen Demokratie doch genüge getan. Und wenn doch etwas übersehen wurde, dann empfiehlt sich das Mitwirken im Wuppertaler Bürgerbeteiligungsforum, natürlich im Internet. Und wenn das alles nichts nützt, dann hilft vielleicht der Gang zur Wahlurne.

Wuppertaler Bürgerbeteiligungsforum: https://forum.wuppertal.de/haushalt

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