Taksim-Platz mit dem Atatürk-Kultur-Zentrum
Text und Bilder Daniela Ullrich
Wie weit sind Menschen bereit, für ihren Glauben zu gehen – sei es für ihren Glauben an Gott, die Freiheit oder auch an den Fußball. In der zweiten Oktoberwoche gibt es Krawalle in Hamburg, zwischen Kurden und Jesiden auf der einen, und Islamisten auf der anderen Seite. Es geht um Kobanê, die syrische Stadt, die seit Wochen von Kurden und der Terrorgruppe Islamischer Staat umkämpft ist. Das Nachbarland Türkei verweigerte lange einen Durchzug weiterer kurdischer Kämpfer über ihr Territorium nach Syrien. Nach Ansicht der Regierung sind die kurdischen Volksschutzeinheiten in Syrien mit der Arbeiterpartei PKK verbunden, die wiederum von der Türkei, aber auch von Europa und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Am 6. Oktober kommt es auf dem Taksim-Platz in Istanbul zu Protesten, vor allem von Kurden. Die Demonstration endet mit einem Tränengaseinsatz der Polizei.
Die Bilder dieser und der folgenden Nächte ähnelten denen, die gut eineinhalb Jahre zuvor aus Istanbul um die Welt gegangen waren zwar nur bedingt, doch auch damals waren auf dem Taksim-Platz Wasserwerfer im Einsatz. Denn der Platz am Gezi-Park war im Frühsommer 2013 mehr als zwei Wochen das Zentrum der Proteste gegen die Regierung Erdoğan. Damals kämpften viele Gruppen für ihr Recht auf Freiheit, und gegen Korruption, teure Mieten, schlechte Arbeitsbedingungen, aber auch gegen die Islamisierung der Gesellschaft und vor allem gegen die Unterdrückung von Minderheiten wie Aleviten und Kurden. Unter den vier Millionen Menschen auf der Straße waren auch Fußball-Fans, es gab tagelange Straßenschlachten und Tote durch Polizeigewalt.
Nicht erst seit dem Champions-League-Hinspiel zwischen Borussia Dortmund und Galatasaray Istanbul ist der türkische Fußball für seine von großen Emotionen geprägte Fankultur bekannt. Bei den Protesten im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz aber zeigten die Fans der drei großen Istanbuler Fußballklubs Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe ihr politisches Gesicht. Rund anderthalb Jahre später, genau an dem Tag, an dem auf dem Taksim-Platz die Demonstration der Kurden erneut durch den Einsatz von Tränengas durch die Polizei aufgelöst wird, treffen wir, eine Gruppe Wuppertaler und Gelsenkirchener Fußballanhänger, den Beşiktaş-Fan Karim, der 2013 auf dem Taksim für Freiheit und Demokratie gekämpft hatte. Sein Glaube an die Freiheit hatte ihn damals auf die Straße getrieben.
Karim ist türkischer Fußballfan, er hat schulterlanges, graues Haar, trägt einen Neuntage-Bart. Er zeigt uns seinen Ausweis: Beşiktaş ist dort als Geburtsort vermerkt. Darauf ist er stolz.
Karim ist Musiker, singt bei Festen und Hochzeiten, er ist DJ. An diesem Oktoberabend trifft er uns deutsche Fußballfans. Er erzählt von jenen Tagen und vor allem Nächten, als Taksim-Platz und Gezi-Park, nur wenige Kilometer südöstlich von Beşiktaş, zum Mittelpunkt der türkischen Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan wurden. Und Karim war mittendrin. Mit Çarşı – der 1982 gegründeten Fangruppe von Beşiktaş Istanbul. Genau eine Woche vor der Räumung des Gezi-Parks am 15. Juni 2013 hatten sich Anhänger der drei bekanntesten Istanbuler Fußballvereine Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe zu einem Protestzug zusammengeschlossen – viele trugen damals einen Schal mit dem Schriftzug „Istanbul United“, Istanbul vereint. Denn ihre Rivalität war häufig in der Geschichte des türkischen Fußballs in extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Verletzungen und sogar mit Toten geendet.
Die Fans der drei Gruppierungen Tembuyuk, Carsi und FBD gelten hingegen als gemäßigt, politisch eher links. Das gilt in besonderem Maße für die Vereinigung carsi. Die Mitglieder gelten nicht als gewaltsuchend, sind aber durchaus zur Verteidigung bereit, wenn sie angegriffen werden.
Während der Proteste kämpften die drei Fanlager nicht gegeneinander, sondern miteinander. Gemeinsam glaubten sie daran, etwas ändern zu können. „15 Tage waren wir alle vereint im Kampf für die Freiheit, für die Natur, für die Rechte von Frauen, Schwulen und Lesben“, sagt Karim. Çarşı stand von Beginn an an der Seite der Protestler, war dabei, als am 1. Juni die Polizeiketten gesprengt wurden und der Park zurückerobert wurde. Auf das Viertel Beşiktaş waren die Straßenkämpfe bereits in den Tagen zuvor übergegriffen. Gegen das Tränengas halfen Zitronensaft, Essig und Talcid. Die neusten Nachrichten verbreiteten sich in jenen Tagen über Twitter, sie wurden aber auch von Bewohnern des Viertels von ihren Balkonen hinunter auf die Straße gerufen. Denn Beşiktaş ist ein besonderes Viertel. Es erstreckt sich vom Dolmahçe-Palast bis kurz vor die zweite Bosporus-Brücke. Hier haben so wenige wie in keinem anderen der 39 Istanbuler Bezirke der Regierungspartei AKP ihre Stimme gegeben.
Im Schriftzug von Çarşı ist der erste Vokal zum anarchistischen A stilisiert. So wundert es nicht, dass Çarşı beim Protestzug der Fußballfans am 8. Juni 2013 den größten Teil gestellt haben soll. Zehntausende sollen es gewesen sein. Im Fanshop von Beşiktaş zeigt Karim ein T-Shirt: Es zeigt einen Bagger mit dem Çarşı-A. Dieser soll im Verlauf der Proteste von einem Çarşı-Anhänger gekapert worden sein und einen Wasserwerfer zum Rückzug gezwungen haben. Nicht nur deshalb sagt Karim: „Wir haben gewonnen, wir haben den Gezi-Park gerettet.“ Denn die Gesellschaft habe sich durch die Ereignisse im Gezi-Park verändert. 35 Çarşı-Anhängern allerdings droht seit September 2014 wegen eines angeblichen Umsturzversuchs gegen den damaligen Premierminister lebenslange Haft. Auch ihm selbst, sagt Karim. Aber das sei egal. „Es gibt einen viel höheren, einen viel zu hohen Preis, den wir für unseren Sieg zahlen mussten: Acht junge Menschen haben ihr Leben verloren.“ Auch Berkin Elvan. Der 15-Jährige war damals von einer Tränengas-Granate am Hinterkopf verletzt worden. Nach 269 Tagen im Koma starb er am 11. März 2014.
Ein Graffiti, das in Kadiköy an den verstorbenen Jugendlichen Elvan Berkin erinnert.
Berkins Name steht heute auf Häuserwänden geschrieben, und erinnert an ihn, und an die Proteste – nicht nur in Beşiktaş, sondern auch im Stadtteil Kadıkoy, der Heimat von Fenerbahçe. Hier in Kadıkoy hat einer der größten Fanklubs der Vereins Fenerbahçeliler Derneği (FBD) seine Räume, hoch oben in einem der schmalen Häuser über mehrere Etagen. Seit 1986 existiert Derneği, was auf Deutsch Verein bedeutet. Nicht erst seit den Kämpfen im Gezi-Park sehen sich die türkischen Fußball-Fans massiven Repressionen ausgesetzt. Besonders problematisch: Der Pasoklik. Nur mit dieser Art Kreditkarte – ausgestattet mit Foto und Klarnamen – können sie Eintrittskarten kaufen. Nach den Ereignissen im Gezi-Park haben sich gemäßigte Gruppen der drei großen Istanbuler Vereine zusammengeschlossen. Alle zwei Wochen treffen sie sich. An diesem Tag sind es in der obersten Etage bei FBD ungefähr 30 Fans. Eine offene Runde von Männern und Frauen, von Alten und Jungen, vor einem riesigen Fenerbahçe-Banner. Auf die gegenüberliegende Wand projiziert ein Beamer das Manifest. Punkt für Punkt wird besprochen, es wird abgestimmt. Jeder darf über ein Mikrofon, das herumgereicht wird, seine Meinung zu einem Punkt äußern. Das Manifest soll eine Satzung werden für einen Verein, der sich für die Rechte der Fußballfans einsetzt. Ein Verein, der die großen Drei zu einer mächtigen Stimme machen soll. Der Kampf auf der Straße ist im Vereinsheim angekommen, der Glaube daran, etwas ändern zu können, ist noch da.
„In Ankara und Izmir sind wir schon weiter“, sagt Gökhan. Dort seien die Strukturen bereits handlungsfähig. Gökhan ist 42 und lebt seit 30 Jahren in Istanbul, wo er Deutsch studiert hat, das er fließend und beinahe akzentfrei spricht. Seine Kindheit hat er in Duisburg verbracht. FBD ist mit Çarşı am 8. Juni 2013 durch Istanbul marschiert, hat um den Gezi-Park gekämpft. Seite an Seite mit den Mitgliedern von Tekyumruk, neben Ultraslan die größte Fanvereinigung von Galatasaray. „Wir waren mit 2000 bis 3000 Leuten im Gezi-Park“, erzählt Mehmet. Der 35-Jährige, der in Paris Wirtschaft studiert hat, ist so etwas wie ein Pressesprecher von Tekyumruk.. Er trägt die dunklen Haare kurz, aber nicht zu kurz, hat ein schmales, freundliches Gesicht. Sein Lächeln ist höflich. Mehmet beschreibt seine Gruppe als linkspolitisch orientiert, die Hierarchien seien flach. In der Kurve stehen alle zusammen, mehrere Tausend. Das war früher unproblematisch, denn es gab keinen Blockzwang, keine Fantrennung, und auch keinen Pasoklik. „Seit der Pass gilt, habe ich kein Spiel mehr gesehen, davor alle“, sagt Mehmet. Aber er glaubt weiterhin an sein Recht, seinen Verein zu unterstützen. Sein Kampf findet nun aber nicht mehr auf der Straße statt.
Hintergrund
Vom 6. bis 10. Oktober 2014 waren das Fanprojekt Wuppertal und das Schalker Fanprojekt am Bosporus, um dort Fans der drei großen Vereine Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe zu treffen, und sich mit ihnen auszutauschen. Dieser Austausch wurde ermöglicht von PFIFF, dem „Pool zur Förderung innovativer Fußball- und Fankultur“ der DFL. Die 17 jungen Erwachsenen und die vier Mitarbeiter der Fanprojekte waren eine Woche im Stadtteil Beyoğlu untergebracht – ungefähr 500 Meter vom Taksim-Platz entfernt.
Glossar
Beşiktaş Istanbul ist einer der drei bekanntesten Vereine der Stadt am Bosporus, gleichzeitig ist es ein Stadtteil der Metropole.
Galatasaray Istanbul ist einer der drei bekanntesten Fußballvereine der Stadt.
Fenerbahçe Istanbul ist einer der drei bekanntesten Fußballvereine der Stadt, gegründet 1907.
Kadıkoy ist ein Stadtteil Istanbuls. Er liegt auf der asiatischen Seite der Metropole.
Fenerbahçeliler Derneği (FBD) ist ein 1986 gegründeter Fanclub des Vereins Fenerbahçe Istanbul. Er gilt als gemäßigte Vereinigung.
Der Pasoklik ist eine Art Kreditkarte mit Klarnamen und Foto. Ohne diesen Pass ist es für Fußballfans beinahe unmöglich, Karten für Spiele zu bekommen.
Tekyumruk und Ultraslan sind zwei der größten und bekanntesten Fangruppierungen von Galatasaray Istanbul.
Çarşı ist eine 1982 gegründete Fangruppe des Vereins Beşiktaş Istanbul. Die politisch eher links orientierte Bewegung hat weltweite Ableger.
Tarlabaşi ist ein Quartier in Istanbul, das an den Taksim-Platz grenzt. Aparthotels sprießen hier aus dem Boden. Das lukrativ gelegene und vor allem von Einwanderern bewohnte Viertel hat viel Leerstand zu beklagen, so dass eine Gentrifizierung - durch ein großes Bauprojekt der Regierung Erdogan vorangetrieben - zu erwarten ist.
Beyoğlu ist ein Stadtteil Istanbuls, der seit jeher sehr europäisch geprägt ist. Viele große Hotels befinden sich hier.